Es gelingt Bockemühl eine Gegenwärtigkeit herzustellen, als sähe man diese Werke das erste und entscheidende Mal. Seine Frage lautet: Was geschieht zwischen mir und dem Werk? Kann ich mein Sehen als höchste Aktivität und entscheidende Realität begreifen? Den Weg William Turners (1775 – 1851) skizziert Bockemühl anhand einzelner Bilder vom könnerhaften darstellerischen Frühwerk bis zu den feinsten atmosphärischen Farbgebilden der späten Jahre. Die Unbestimmtheit der Gemälde ab den 1830er Jahren erweist sich als hohe Qualität. Turner wollte Offenheit und Rätselhaftigkeit, der Atmosphäre einer Situation sowie flüchtigsten Bewegungen eine adäquate Form verleihen.
Bockemühls methodische Hinweise um vom vorstellenden, begrifflichen Deuten des Motivs zum individuellen Sehen zu gelangen, sind dabei außerordentlich hilfreich und für den Lesenden ein kostbares Instrumentarium, weit über Turner hinaus. Welch ein Sprung beispielsweise zwischen dem narrativen Titel «Das Kriegsschiff Temeraire wird zu seinem letzten Ankerplatz geschleppt…» von 1838/39 und der Wirkung dieses Werkes als Farbereignis. Interessant auch der Hinweis, dass Goethes Farbenlehre 1840 ins Englische übersetzt und drei Jahre später Turner geschenkt wurde. Bockemühl vermag konkret an Bildern zu zeigen, wie Turner das Erscheinen der Farbe zwischen Licht und Finsternis gestaltet und Naturprozesse zu Bildprozessen werden lässt, die den Betrachtenden unmittelbar in Geschehen wie die untergehende Sonne oder schäumendes Meer hineinzuziehen vermögen.
Michael Bockemühl: J.M.W. Turner. Band 15 der Edition Kunst sehen. 96 Seiten, 2022 Info3-Verlag, 16,80 Euro.
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