Die Großmutter des französischen Autors Alexandre Dumas war eine schwarze Sklavin aus Haiti. Der Urgroßvater des russischen Autors Alexander Puschkin wurde als Sklave aus Eritrea nach Russland verschleppt. Beide waren also People of Color. Hätten Sie´s gewusst? Ich habe das gerade erst gelernt. Wie entstehen solche blinden Flecken in unserer kulturellen Sozialisation?
Drei Tage lang haben 15 Personen über Rassismus, Toleranz, Weiß-Sein und kindliche Prägung gesprochen. Die Teilnehmer:innen waren Dozierende an Waldorfseminaren, Mitglieder der Pädagogischen Forschungsstelle, Autor:innen, Mitglieder des Projekts «Zukunft.Machen» und ich. Angeleitet wurden wir von zwei Trainer:innen von Phoenix e.V., einem Berliner Verein, der schon seit rund 40 Jahren Anti-Rassismus-Trainings anbietet. Eingeladen hatte die Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, die sich aktuell mit der Erneuerung der Lehrplanarbeit für Waldorfschulen beschäftigt, darunter auch die Überarbeitung des Geschichtsunterrichts im Sinne der Dekolonialisierung oder den Ersatz von diskriminierenden oder rassistischen Lektüren, etwa im Englischunterricht.
Im Laufe des Workshops wurden wir Teilnehmenden sanft, aber bestimmt auch an manche Wunde herangeführt. So wurden wir etwa konfrontiert mit Zahlen, die viele von uns noch nicht kannten. Etwa über den Genozid an Afrikaner:innen durch europäische Könige und Kolonialfürsten, so etwa die Maafa im Kongo, wo innerhalb von 23 Jahren geschätzt 10 Millionen Menschen ermordet wurden.
Rassismus in Kindermedien
Und wir lernten, dass in fast jeder Hörspielfolge der beliebten Kinderhörspielserie TKKG die meist männlichen Täter Ausländer sind. Dass in vielen Kinderbüchern in Deutschland bis heute afrikanische Menschen als Menschen dargestellt werden, die in Hütten leben und Bambusröckchen tragen. Tim und Struppi im Kongo ist voller rassistischer Stereotype und stammt zwar aus den 1920er Jahren, wird aber auch heute noch viel gekauft und gelesen. Ein Tiefpunkt der Beschäftigung mit Kinderbüchern war für mich das Bilderbuch Der kleine schwarze König von Bernhard Langenstein aus dem Jahr 2007, in dem das Narrativ vorkommt, dass der dunkelhäutige König Balthazar weiße Handflächen bekommt, nachdem er die Wangen des neugeborenen Jesuskindes berührt hat. Was für ein unglaublicher Hochmut!
«Race doesn´t exist, but it does kill people»
Rasse ist kein biologischer, sondern ein soziologischer Begriff. Eine Konstruktion, die Menschen hilft, Gewalt und Macht zu legitimieren. Die französische Soziologin Colette Guillaumin hat einmal formuliert «Race doesn't exist, but it does kill people.» Verstärkt gilt seit dem Beginn des Kolonialismus im 15. Jahrhundert, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe rassistisch diskriminiert und getötet werden. Auch in Deutschland wurden in den letzten Jahren zahlreiche People of Color aus rassistischen Motiven ermordet, zuletzt im vergangenen Jahr die sechsfache Mutter Yazy Almiah aus Syrien, die nach einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft starb.
Als Forschende im 19. Jahrhundert im heutigen Simbabwe Ruinen einer riesigen aus Stein gebauten Stadt entdeckten, waren sie der Überzeugung, sie könnte niemals von Schwarzen erbaut worden sein. Es seien vielleicht die Griechen gewesen oder sonstige Weiße. Ihre Vorstellung war, dass natürlich nur weiße Menschen die Kompetenz gehabt hätten, solche architektonischen Wunder vollbracht zu haben.
Werden heutige Kindergartenkinder gefragt, welche Puppe schlauer ist, die hellhäutige oder die dunkelhäutige, dann antworten sie häufiger, dass es die weiße sei – und andersrum, die, die häufiger bestraft werde, die dunkelhäutige. Wir scheinen also noch nicht weit weg vom Narrativ der Minderwertigkeit von People of Color – obwohl inzwischen alle Kolonien wieder unabhängige Länder sind.
«Ich bin nicht rassistisch»
«Wir sind doch alle Menschen, und für mich sind wirklich alle Menschen gleich, die Hautfarbe sehe ich gar nicht». Mit einer anderen Teilnehmerin spreche ich später über diese Aussage eines Bekannten von ihr. Ist eine solche Haltung naiv? Oder ist sie wirklich möglich? Auch in unserer Gruppe haben sich einige Männer anfangs so etwa in diesem Sinne geäußert. Sind Frauen sensibler, was Rassismus angeht, weil sie selbst als Frauen schon vielfach Diskriminierung erlebt haben?
Weiß-Sein
Die meisten Weißen machen sich das Weiß-Sein nicht bewusst. Aber Weiß-Sein ist ein Ort und Zustand struktureller Vorteile und Privilegien, ein Ort, der unsichtbar ist, und doch Normen setzt und Gesellschaft definiert. Können Weiße das Weiß-Sein dekonstruieren? Was bleibt dann von ihnen übrig? Wie gehen wir alle mit unseren Kindern um, was geben wir ihnen weiter von dem, was durch Narrative in Büchern, Filmen, Serien und Musikvideos – oft unbewusst aufgenommen – in uns lebt?
Erschütterung
Eine Teilnehmerin wurde von einigen der Informationen, die wir während des Seminars erhielten, sehr erschüttert. «Ich bin so betroffen, welche Informationen man uns vorenthalten hat. Den Holocaust lernen wir in der Schule kennen, aber die vielen Völkermorde an den Natives in Australien, Amerika oder Afrika waren mir bisher gar nicht bekannt», so die 40-jährige.
Rollenspiel
Die Trainerin stellt zwei Stühle in unsere Mitte, auf dem einen klebt ein Zettel «Es gibt Menschenrassen», auf dem anderen der Satz «Es gibt keine Menschenrassen». Im sehr schnellen Wechsel sollen wir uns auf einen Stuhl setzen und unserem Gegenüber die jeweilige Aussage nahebringen. Alle, die mitgemacht haben, waren hinterher erstaunt über sich selbst. Auf dem Stuhl «Es gibt Menschenrassen» saß es sich gemütlicher, es fiel allen viel ein, was sie hier an Unwahrheiten, Propaganda und Lügen aussprechen konnten. Auf dem anderen Stuhl fühlten wir uns hilfloser, sprachloser, unsicherer. Wie kann uns das passieren als Gruppe, die sich weitgehend als nicht rassistisch bezeichnet?
Dringender Bedarf für angehende Lehrkräfte
Dr. Tatjana Pavlov-West nahm als Dozierende an einer Hochschule, an der Waldorflehrkräfte ausgebildet werden, an dem Workshop teil. Sie ist unter anderem Dozentin für Methodik des Englischen an der Freien Hochschule Stuttgart. Sie sagte, wir müssten vor allem in pädagogischen Einrichtungen anti-rassistisch denken, sprechen und handeln lernen, um einen Raum zu schaffen, in dem sich alle Student:innen und Schüler:innen, egal welcher Hautfarbe, Herkunft, Religion oder sexuellen Orientierung, gleichberechtigt behandelt fühlen. «Laut der Stuttgarter Erklärung, Waldorfschulen gegen Rassismus und Diskriminierung setzen wir uns an Waldorfinstitutionen für Diversität und Toleranz ein und sprechen uns klar gegen jegliche Form der Diskriminierung aus. Damit dies jedoch nicht nur leere Phrasen bleiben, sollte ein Anti-Rassismus-Training zum Pflichtprogramm in der Lehrer:innenausbildung werden. Wir müssen diesem Thema ausreichend Zeit widmen, um zukünftige Lehrkräfte für verschiedene Formen der Diskriminierung zu sensibilisieren. Nur so können wir garantieren, dass dieses Bewusstsein in den Schulen weiterlebt und für alle Schüler:innen eine sichere Lernumgebung geschaffen wird.»
Fazit
«Für mich war es gruselig zu erkennen, dass allein die Nicht-Anwesenheit von POC in meiner Kindheit und Jugend mich bereits rassistisch geprägt hat», resümierte ein 35-jähriger Teilnehmer. Im Lauf des Trainings hatten wir eine «Sonne des Rassismus» gestaltet: rund 40 Begriffe, die wir mit Rassismus assoziiert haben. Diese Sonne scheint offensichtlich auf uns alle und wir geben diesen Rassismus auch nonverbal weiter, selbst wenn wir scheinbar «nur» das Kind, das an unserer Hand läuft, fester greifen, wenn uns etwa eine Gruppe von Sinti und Roma entgegenkommt. «Ich möchte meinen Rassismus loswerden», sagte ein Teilnehmer, «ich weiß nur nicht, wie mein Kopf da mein Gefühlsleben erreichen soll». Wir können alle nichts dafür, wie wir rassifiziert wurden – also wie können wir ausscheren aus der Spirale? Die amerikanische Philosophin Angela Davis hat einmal gesagt «Es reicht nicht aus, nicht rassistisch zu sein, wir müssen antirassistisch sein». Mit diesem Vorsatz bin ich aus Bonn wieder in die Redaktion zurückgekehrt.
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.