«Wenn es mir einmal richtig schlecht geht und ich deprimiert bin, bin ich dann nicht resilient?» Diese Frage stellte eine meiner Kolleginnen, als wir uns im Vorfeld über das Thema Resilienz unterhalten haben. Eine Antwort hatten wir gemeinsam schnell gefunden: «Nein». Denn unglücklich und deprimiert sind wir im Lauf unseres Lebens alle, immer wieder. Doch worin genau besteht und woraus resultiert Resilienz, diese innere Haltung und Widerstandskraft, die entscheidend ist für unseren individuellen Umgang mit Stress, Krisen und Ausnahmesituationen?
Zum seelischen Widerstand fielen mir spontan zwei Zitate ein: «Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist!» aus der Operette Die Fledermaus von Johann Strauss. Und: «Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen» von Johann Wolfgang von Goethe.
Aktiv durch die Krise
Im Zusammenhang mit dem Thema Resilienz stoßen wir tatsächlich immer wieder auf die besondere innere Haltung und das aktive Element, das in beiden Zitaten steckt. Dazu passt der Wortursprung, der lateinische Begriff resilire: zurückspringen, zurückprallen oder nicht an jemandem haften. Bei allen drei Aspekten ist man Akteur:in: wenn man zurückspringt, ebenso als wenn man dafür sorgt, dass etwas abprallt oder nicht haften bleibt. All das geht auf das eigene Handeln, auf aktive Entscheidungen zurück und ist nicht per se in uns selbst vorhanden. Von der Wortschöpfung ausgehend, ist Resilienz also eine Fähigkeit, die wir selbst entwickeln müssen, um Krisen besser bewältigen zu können.
Zugeschrieben wird der Begriff Resilienz dem US-amerikanischen Psychologen Jack Block, der in den 1970er Jahren zur Persönlichkeitsentwicklung von Kleinkindern forschte und ihre Resilienz analysierte. Als Meilenstein in der Resilienzforschung gilt auch die Arbeit der US-Forscherinnen Emmy Werner und Ruth Smith. Sie führte auf der Insel Kauai auf Hawaii eine 40 Jahre dauernde Studie durch, bei der sie das Erwachsenwerden von Kindern begleitete. Sie stellte dabei fest, dass die soziale Herkunft nicht darüber entscheidet, wie sich das Leben eines Menschen entwickelt. Zufrieden und ausgeglichen lebten diejenigen, die ein wesentliches Prinzip für sich entdeckt hatten: Werde ich aktiv, kann ich mich und eventuelle Missstände verändern.
Dieses aktive Prinzip unterscheidet sich von der Bedeutung, die Resilienz
beispielsweise in den Ingenieurswissenschaften hat. Dort gilt die Resilienz als Wiederherstellen der ursprünglichen Form eines Körpers nach dessen Verformung. Auch in der Energiewirtschaft spricht man von einem resilienten System, wenn dieses nach einem Teilausfall schnellstmöglich zum Ausgangszustand zurückkehren kann. Verwandter mit unserer menschlichen Entwicklung ist der Resilienzbegriff für Ökosysteme. Dort beschreibt er die Fähigkeit, seine Organisation auch bei Störungen grundsätzlich zu erhalten.
Solche Störungen gibt es im Leben jedes Menschen genug; der Unterschied liegt darin, wie wir damit umgehen. Doch welche Faktoren und Entwicklungen beeinflussen dieses Umgehen? Und wie können sich Waldorfschüler:innen mit Hilfe ihrer Schulen widerstandsfähig machen, wenn es um die großen Krisen unserer Zeit geht?
Hürden und Helden
Denken wir an Märchen und ihre Botschaften, drängen sich beim Thema Resilienz Die Bremer Stadtmusikanten auf: Statt sich dem Schicksal Suppentopf und Abdecker zu ergeben, verbünden sie sich und schlagen Räuber in die Flucht, um eine neue Karriere als Musiker:innen in Angriff zu nehmen. Weitere Beispiele für Geschichten über erfolgreichen Widerstand gegen scheinbar ausweglose Situationen gibt es genug: David besiegt Goliath. Krabat besiegt das Böse in der Mühle am Koselbruch. Und Pippi Langstrumpf freut sich regelrecht auf Piraten, Angriffe von Räubern und Krankheiten.
Zu Held:innen wären diese Figuren nicht geworden, hätten sie sich in ihr Schicksal ergeben oder ein Leben ohne Herausforderungen geführt. Ihr mutiger Umgang mit Krisen dient uns als Vorbild. So gibt es auch im wahren Leben diese Mutigen: Die pakistanische Bloggerin und Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai, die seit ihrem elften Lebensjahr für das Schulrecht für Mädchen kämpfte, gehört dazu. Sie wurde als 14-Jährige in den Kopf geschossen und überlebte schwer verletzt. Trotzdem setzt sie sich bis heute für das Recht auf Bildung ein und erhielt dafür den Friedensnobelpreis.
Gemeinsam stärker
In der Psychologie benennt man sechs wesentliche Faktoren für die Entwicklung von Resilienz: einen positiven Umgang mit Stress, eine positive Selbstwahrnehmung, Selbstüberzeugung und Selbststeuerungsfähigkeit sowie Kompetenzen zum Problemlösen und im sozialen Bereich.
Vor allem der letzte Faktor sticht bei den bisher erwähnten Geschichten heraus. Denn alle diese Held:innen hätten den Kampf bis zum Ende nicht alleine bestreiten können: Pippi hatte Tommy und Annika zur Seite, Krabat konnte sich nicht nur auf seine Kantorka, sondern auch auf mehr Gesellen verlassen, als er ahnte. Und auch Malala hatte viele – wenn auch weniger prominente – Unterstützer:innen. Um frische Widerstandskraft zu entwickeln, brauchen wir also offenbar Menschen, die uns im wahrsten Sinne des Wortes den Rücken stärken.
Jack Block und Emmy Werner kamen bei ihren Forschungen ebenfalls zu dem Schluss, dass Resilienz eine Eigenschaft ist, die sich im sozialen Miteinander entwickelt. Gemeinschaftserlebnisse schenken Zugehörigkeitsgefühl, Geborgenheit und Zuversicht und werden so zu den Bausteinen für das Resilienzfundament. Der feste Klassenverband an Waldorfschulen, der bis zum Schulabschluss intakt bleibt, kann als solcher Baustein dienen. Auch gemeinsame Klassenfahrten bauen darauf auf, ebenso Klassenlehrer:innen als langjährige Bezugspersonen, wiederkehrende Rituale im jahreszeitlichen Verlauf und Klassenspiele. Rudolf Steiner meinte: «Das einzig Gesunde ist doch, allen Einfluss auf den Willen des anderen Menschen nur durch Erkenntnis hindurchzubekommen. Erkenntnis soll etwas sein, wodurch sich die eine Seele mit der anderen verständigt.» In der festen, langjährigen Gemeinschaft wächst genau diese Erkenntnis.
Frühes Weichenstellen
Ein weiteres Modell in der Psychologie stammt von Ursula Nuber und fußt auf sieben Säulen als Fundament für Resilienz. Neben dem sozialen Umfeld und dem daraus entstehenden Netzwerk zählen dazu Optimismus, Akzeptanz, Lösungsorientierung, Zukunftsplanung, das Übernehmen von Verantwortung sowie das Verlassen der Opferrolle.
Wir können zum Glück jederzeit damit beginnen, an uns zu arbeiten und uns diese Eigenschaften für unsere Lebensgestaltung anzueignen. Wer dazu jedoch schon in der Kindheit die Gelegenheit bekommt, hat im Verlauf seines Lebens einen entscheidenden Vorteil. Denn in extremen oder sogar traumatischen Situationen kann Resilienz zum entscheidenden, weichenstellenden Faktor für deren Bewältigung werden. Die Resilienzforschung belegt dies seit Jahren, zum Beispiel mit Berichten über Menschen, die ihre Heimat verlassen und auf der Flucht Schreckliches erleben mussten. Denn mit der Traumatisierung geht zwar meist auch der Verlust von Sicherheit, Selbstwert und Identität einher, die häufig durch Ohnmacht und Hilflosigkeit ersetzt werden. Allerdings gibt es auch zahlreiche Berichte von Menschen, die ihr Leben trotz Traumata eigenständig und optimistisch in die Hand nehmen – dank der ihnen eigenen Resilienz.
Eine Forscher:innengruppe um den US-Psychologen Nathan Caplan beschäftigte sich ab den 1970er Jahren mit Kriegsflüchtlingen aus Vietnam, den Boat People. Caplan und sein Team wählten dafür 536 Kinder aus geflüchteten Familien aus, die sie in sehr unterschiedlichen Bereichen über einen längeren Zeitraum hinweg testeten. Diese Ergebnisse verglichen sie anschließend mit denen von Kindern aus US-Mittelstandsfamilien. Das Ergebnis: Die geflüchteten Kinder schnitten in ausnahmslos allen Bereichen besser ab als die einheimischen Kinder!
Die Forscher:innen führten diese Ergebnisse auf den traditionell starken Zusammenhalt in den vietnamesischen Familien zurück. Kinder mit mehreren Geschwistern erhielten zudem noch bessere Ergebnisse als Einzelkinder. Einen der bedeutendsten Einflüsse hatte laut der Studie dabei das Vorlesen: 45 Prozent der Geflüchteten las ihren Kindern regelmäßig vor und trugen so zu einer starken emotionalen Bindung bei. Caplan ging es bei diesen Forschungen zwar in erster Linie um Leistungsfähigkeit. Doch auch in Sachen Resilienz gab es eine Überraschung. Denn die Kinder der Boat People waren nicht nur leistungsstärker, sondern auch deutlich zufriedener und optimistischer als die Kinder aus gut situierten Familien der US-amerikanischen Mittelklasse.
Gesellschaft in der Krise
Betrachtet man die Studie im Hinblick auf die wenig resilienten –
oder vulnerablen – Kinder aus wohlhabenden Familien, kommt uns das heute bedrückend bekannt vor. Die US-amerikanische Psychologin Wendy Mogel forscht seit Jahrzehnten zur Ursache für die seelische Instabilität von wohlbehüteten Mittelschichtkinder. Ergebnis einer ihrer Studien: Materieller Wohlstand und liebevolle Eltern sind keine Garantien für den Aufbau von Resilienz. Als größte Hindernisse stellte sie mit ihrer Forschung Überbehütung sowie fehlendes Vermitteln von Verantwortung und Werten fest.
Überquellende Kinder- und Jugendpsychiatrien spiegeln diese Ergebnisse bei uns vor Ort wider: Neben Ess- nehmen vor allem Angststörungen und Schulverweigerung bei Kindern und Jugendlichen stetig zu. In Krankenhäusern tätige Kunsttherapeut:innen wie Ullrich Kleinrath, der in Ottersberg in einem Kooperationsmodell die Weiterbildung Klinisch Anthroposophische Kunsttherapie anbietet, berichten von Kindern, die bis zu ihrem Klinikaufenthalt noch nie im Leben etwas mit den eigenen Händen geschaffen haben. «Sogar das Zeichnen eines Kreises wird für sie zur Herausforderung», so Kleinrath. Das, zumindest, kann den meisten Waldorfschüler:innen nicht passieren. Die ersten Schuljahre üben sie mit ihren Händen diese und eine Menge anderer Fertigkeiten beim Formenzeichnen, Bestellen von Feldern, schaufeln Kohle, Nähen, Häkeln, Hobeln, Sticken und wühlen in Gartenerde.
Vom Wollen und Müssen
Auch Waldorfschüler:innen erleben die Folgen der Coronakrise, Berichte über Kriege und die Angst vor Wohlstandsverlust. Doch werden die Ängste der Erwachsenen in dem Maße zu ihren eigenen Ängsten, wie es bei Kindern an staatlichen Schulen der Fall ist? Immerhin dürfen Waldorfschüler:innen von der ersten Klasse an im Rahmen ihrer Möglichkeiten – wenn auch sicher nicht immer zu ihrer Begeisterung – Verantwortung übernehmen und anderen helfen: bei kleinen Tafel- oder Putzdiensten, in der Schulküche, im Garten oder etwas später als Pat:innen für Erstklässler:innen. Der Weg zur Resilienz führt bei ihnen über die konstante Schul- und Klassengemeinschaft, über Kreativität und Körpererfahrung. Wie die Bremer Stadtmusikanten stehen sie oft vor Herausforderungen und müssen scheinbar gewaltige Probleme lösen. Angefangen bei «Ich kann an meinem ersten Schultag doch nicht alleine, ohne Eltern und vor so vielen Menschen, auf die Bühne zu fremden Lehrer:innen gehen!», über «Ich kann diese riesige Tasche nicht bis zum Ende sticken!» bis hin zu «Ich will die Hauptrolle im Achtklassspiel doch gar nicht spielen!»
Waldorfschüler:innen müssen Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge zusammenbringen, die scheinbar nicht zusammenpassen, dabei kreativ werden und sehr häufig über ihren eigenen Schatten springen. Aber sie bleiben bei allen Hindernissen eine feste Gemeinschaft und verfolgen gemeinsame Ziele. Bleibt zu hoffen, dass sie am Ende von so viel Kreativität, Entschlossenheit und Gemeinschaftsgefühl mit Resilienz belohnt werden.
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