Ausgabe 10/23

Resilienz von Lehrkräften

Jürgen Peters

Lehrer:innen haben einen anspruchsvollen Beruf, der Fähigkeiten auf verschiedenen Ebenen verlangt. Das fängt beim Fachlichen an, schließt auch Kommunikationsfähigkeiten mit ein – ob im Unterricht, mit Eltern oder mit Kolleg:innen – und erstreckt sich nicht zuletzt auch auf organisatorische Felder und Zeitmanagement. Gerade diese Vielfalt kann auf Dauer belastend sein, auch, weil die Arbeit oft mit nach Hause genommen wird und sich die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben auflösen. Untersuchungen haben ergeben, dass an Regelschulen mehr als die Hälfte der Lehrkräfte durch die vielfältige Dauerbelastung berufsbedingte Krankheitssymptome entwickeln. Dies ist ein alarmierendes Ergebnis. Sieht das an Waldorfschulen besser aus?

Studie an Waldorfschulen

Im Jahr 2012 wurden in einer Studie der Alanus Hochschule rund 2.000 Waldorflehrer:innen befragt, um herauszufinden, welche hauptsächlichen Belastungsfaktoren und Ressourcen die Lehrkräfte subjektiv erleben. Dabei stellte sich heraus, dass sich die Situation an Waldorfschulen nicht wesentlich von der an Regelschulen unterscheidet: Statt einem Anteil von 60 Prozent mit Gesundheitsgefährdungen sind es an Waldorfschulen nur 50 Prozent – was zwar besser ist, aber bei weitem nicht gut.
Nun kann man die Belastungsfaktoren identifizieren und verringern, oder man stärkt die Ressourcen und Widerstandskräfte, wirkt also resilienzfördernd. Der zweite Weg hat sich in den letzten Jahren als der wirksamere erwiesen.
Das etwas bessere Abschneiden erklärt sich im Wesentlichen aus der Autonomie, über welche die Lehrkräfte in einem selbstverwalteten und nicht-hierarchischen Schulorganismus verfügen. Auch ein positives Betriebsklima spielt eine entscheidende Rolle. Eine dysfunktionale Selbstverwaltung kann dagegen auch zum größten Belastungsfaktor werden. 

Entscheidend: die innere Einstellung

Vorangegangene Untersuchungen hatten gezeigt, dass nicht die äußeren harten Faktoren, wie große Klassen oder problematisches Schüler:innen-Verhalten, ausschlaggebend für das Belastungserleben waren, sondern eher die weichen Faktoren, die mit persönlichen Haltungen und Einstellungen zusammenhängen. Dazu gehören unter anderen das Erleben von sozialer Unterstützung und die Fähigkeit, Probleme offen anzusprechen. Wichtig ist aber vor allem die Kunst, am Abend abschalten zu können und die Arbeit vor dem Zubettgehen – oder idealerweise schon früher – hinter sich zu lassen.
Insgesamt lassen sich elf solcher Haltungen identifizieren, die eine Prognose darüber ermöglichen, ob jemand eine Disposition für einen Burnout besitzt oder die Veranlagung zum Workaholic. Sind die eigenen Anlagen bewusst, die zu einem problematischen Verhältnis von Engagement und Ressourcen führen können, dann besteht auch die Möglichkeit, bewusst gegenzusteuern.

Vier Belastungstypen

Die Auswertung der arbeitsbezogenen Verhaltensmuster liefert vier unterschiedliche Verhaltens-Typen: zwei Muster, die als gesund eingestuft werden und zwei weitere, die auf Dauer zu psychischen oder physischen Erkrankungen führen können.

Gesunde Verhaltensmuster

Der ideale Modus im Umgang mit Belastungen wird im sogenannten gesunden Muster gelebt. Menschen mit einem gesunden Muster sind intrinsisch motiviert und erleben Sinnerfüllung im Beruf. Sie sind darüber hinaus verausgabungsfähig, erholen sich jedoch schnell und verfügen vor allem über die nötige Distanz zu den Problemen des beruflichen Alltags. An Regelschulen wie an Waldorfschulen sind jedoch nur 17 Prozent der Unterrichtenden diesem Muster zuzuordnen.
Das S-Muster, der zweite Verhaltenstyp, steht ursprünglich für Schonung, also für Berufstätige, die allzu große Anstrengungen vermeiden. In dieser Form kommt das Muster unter den Waldorflehrer:innen jedoch nicht vor. Denn auch für Waldorflehrkräfte, die dem S-Muster zugeordnet werden, ist die Arbeit bedeutsam und wird mit persönlichem Engagement durchgeführt. Was sie jedoch auszeichnet: Sie nehmen ihre persönlichen Belastungsgrenzen sehr deutlich wahr und können dadurch eine Überlastung meistens vermeiden. Daher wird dieser Typus auch als Selbstachtsamkeits-Muster bezeichnet. Diese Gruppe macht mit 33 Prozent den größten Anteil unter den Waldorflehrkräften aus. Erwähnenswert ist auch, dass die Wahrscheinlichkeit, ein S-Muster zu entwickeln, mit der Dauer der Berufstätigkeit zunimmt. Zurückzuführen ist das vermutlich auf ein – unter Umständen leidvolles – individuelles Erfahrungslernen.

Risiko-Muster

Zwei Verhaltensmuster könnensich langfristig als gesundheitsgefährdend erweisen: Das erste ist das sogenannte Anstrengungsmuster, das A-Muster, das dem Verhalten eines Workaholic ähnelt und eine geringe Distanzierungsfähigkeit aufweist. Hat etwas nicht richtig funktioniert, wird es mit mehr Energie nochmals versucht, statt zu reflektieren und das eigene Verhalten eventuell anzupassen.  
Das zweite kritische Muster, das B-Muster, ist durch anhaltendende Resignation gekennzeichnet und weist eine hohe Burnout-Gefahr auf. Misserfolge und Energiemangel führen zu geringerem Engagement, einer Resignationstendenz. Dies wiederum schränkt das Erfolgserleben und damit auch positive Rückmeldungen ein, was letztlich das Energielevel noch weiter sinken lässt. So kann eine Abwärtsspirale entstehen, bis man nur noch versucht, irgendwie durch den Tag zu kommen. Beide Muster sind ihren Besitzer:innen oft nicht bewusst, besonders dann, wenn sie noch nicht voll ausgeprägt sind. Aber auch eine Tendenz kann langfristig problematisch werden und ein frühes Gegensteuern bietet immer bessere Chancen zur nachhaltigen Veränderung. Die Häufigkeit der Risikomuster ist mit jeweils 30 Prozent für Lehrkräfte an Regelschulen etwa gleich verteilt, an Waldorfschulen ist das A-Muster mit 27 Prozent etwas häufiger vertreten als das B-Muster mit 23 Prozent.

Verhaltensmuster ändern

Die Musteranlage findet in der Individuationsphase statt und ist mit 17 bis 18 Jahren abgeschlossen. Es können jedoch durch den Beruf auch später noch Veränderungen eintreten. Besonders die Berufseinstiegsphase ist entscheidend. Hier können die Weichen für viele Verhaltensmuster neu gestellt werden, weshalb sich ein Resilienz-Coaching gerade bei Berufseintritt am meisten lohnt. Kleinere Pilotstudien an einzelnen Waldorfschulen über zwei bis drei Jahre haben gezeigt, dass eine positive Musterveränderung möglich ist, wenn das eigene Muster zunächst einmal bewusst gemacht wird und dann über längere Zeit mit Aufmerksamkeitsübungen verfolgt wird. Der Fokus wird dabei jeweils auf eines der folgenden Merkmale gelegt: Bedeutsamkeit der Arbeit, beruflicher Ehrgeiz, Verausgabungsbereitschaft, Perfektionsstreben, Distanzierungsfähigkeit, Resignationstendenz, offensive Problembewältigung, innere Ruhe, Erfolgserleben, soziale Unterstützung und Lebenszufriedenheit. Entscheidend ist dabei auch die Ausgewogenheit dieser Merkmale: Wer zum Beispiel ein höheres Engagement besitzt, braucht zur Balance auch ein größeres Distanzierungsvermögen.

Welche Faktoren begünstigen ein gesundes Verhaltensmuster?

In der eingangs erwähnten Studie von 2012 konnten vor allem vier Faktoren identifiziert werden, die einen gesunden Umgang mit Belastungen begünstigen. Von ihnen gehören die ersten drei zum idealen Berufsbild einer Waldorflehrkraft. Es sind die Initiativkraft, die Begeisterungsfähigkeit und kreative Unterrichtsgestaltung, die Fachkompetenz und die Spirituelle Orientierung.
Jeder einzelne Aspekt wurde im Fragebogen durch mehrere Fragen abgebildet, zu denen die Lehrkräfte ihre Selbsteinschätzung abgeben konnten. Es zeigte sich: Je mehr sich die befragten Lehrer:innen die oben genannten Fähigkeiten und Haltungen selbst zuschrieben, umso geringer war der Anteil der Risiko-Muster. Und in der relativ kleinen Gruppe derjenigen, die angaben, alle vier Merkmale bereits im Schulalltag umzusetzen, reduzierte sich der Anteil der Risikomuster auf null.
Dabei fiel auf, dass sich besonders die Kombination von Fachkompetenz einerseits und den klassischen Tugenden von Waldorflehrer:innen – wie Initiative, Begeisterungsfähigkeit und Kreativität – sehr positiv auswirkte. Die Entfaltung der Initiative hängt auch eng mit der schon oben erwähnten Autonomie der Waldorflehrer:innen in einem selbstverwalteten Schulkontext zusammen. Weitere Hinweise auf die Bedeutsamkeit der Initiativkraft ergaben sich aus einer Langzeitstudie der Hannoverschen Kassen. Dabei zeigte sich, dass die Förderung und Begleitung von individuellen Initiativ-Projekten über ein Jahr einen langfristigen positiven Einfluss auf den Gesundheitszustand hatten.

Fazit

Aus verschiedenen Gründen erscheint es lohnenswert, die Resilienz von Lehrkräften stärker in den Fokus zu nehmen. Zum einen kann dadurch persönliches Leid verhindert werden, zum anderen wird vermieden, dass gut ausgebildete Fachkräfte aus Gesundheitsgründen frühzeitig aus dem Beruf aussteigen müssen und dadurch die ohnehin angespannte Personalsituation an den Schulen weiter belasten. Schließlich ist zu erwarten, dass ein resilientes Kollegium der pädagogischen Qualität der Schule zugutekommt und auch mit Herausforderungen besser umgehen kann.
Der Schlüssel liegt in einem Lernen im Prozess. Dazu kann schon ein punktuelles Coaching einen entscheidenden Anstoß geben. Positive Ergebnisse lassen sich auch bei der Einführung von Intervisionsgruppen und kollegialen Hospitationen beobachten. Dies kann die individuellen Schwachpunkte deutlich machen und zugleich den Wandlungsprozess unterstützen. Eine Schule, die Raum für Initiativen bietet, Coaching unterstützt und zugleich ein solides Konfliktmanagement aufweist, tut von Seiten der Organisation bereits sehr viel für die Gesundheit aller Mitarbeitenden. Zentral bleiben jedoch immer die Bereitschaft und die persönliche Freiheit des Einzelnen – niemand kann und sollte zu einer Veränderung seiner individuellen Bewältigungsstrategien gezwungen werden.

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