Ausgabe 04/25

Rezeptbücher und Holunderbrei

Silvia Ramp


An einem Spätsommertag zermahlen Jewgeni, Aleyna und Lilli auf einem großen Stein im Außengelände einer Berliner Waldorfschule eine Handvoll Holunderbeeren. Es entsteht ein tiefrot-violetter Brei. Sie sind sich sicher, dem Geheimnis der Farbherstellung auf den Grund gegangen zu sein. Stolz präsentieren sie das Ergebnis ihrem Erzieher und fragen ihn, ob sie damit etwas färben könnten. Er staunt über die Entdeckung der Kinder und zeigt ihnen, wo sie Papier und Stoffreste finden. Die Kinder färben die unterschiedlichen Materialien ein, bemerken allerdings auch, dass die Farbe noch klumpig ist. Sie sammeln neue Beeren und experimentieren weiter, indem sie den Holunderbrei aufkochen, sieben und später sogar mit verschiedenen Substanzen andicken. Eine andere Kindergruppe lässt sich von diesen Experimenten anstecken und versucht, mit Gräsern, Wurzeln und Blüten, die sie auf dem Gelände sammeln, ähnliche Ergebnisse zu erreichen.
Beobachtet man Alltagssituationen in Waldorfganztagsschulen oder -Horten, dann trifft man häufig auf Kinder, die im Tun ihre ureigenen Impulse aufgreifen und erproben. Sie suchen eigenständig nach einer Lösung für ihre Fragen und setzen diese mit der Unterstützung der Pädagog:innen um. Wenn die Handlungen einen Ernstcharakter tragen – die Kinder also Dinge tun, von denen sie annehmen, dass Erwachsene sie so auch tun würden – erfahren sie in besonderem Maße ihre Selbstwirksamkeit. Auf dem Weg dorthin durchlaufen sie zahlreiche soziale Prozesse, um in der Gruppe handlungsfähig zu sein. Sie erwerben außerdem feinmotorische Kompetenzen, die es ihnen ermöglichen, die gewünschten Dinge herzustellen. Sie beobachten die unterschiedlichen Phänomene und ziehen daraus ihre eigenen Schlüsse. Dabei sind sie getragen von inneren Bildern – wie zum Beispiel dem Aquarellmalen im Unterricht – die ihren Handlungen Impulse geben. Was hier sichtbar wird, ist Bildung in einem erweiterten Sinne.

Alltagsintegriert lernen


Der Tagesablauf an den Waldorfganztagsschulen und Horten bezieht viele naturbezogene, spielerische, soziale oder künstlerisch-handwerkliche Elemente ein, sodass die Kinder in ihrem Tun eine tiefe Verbindung zur Welt entwickeln können. Über das Aufgreifen eigener Impulse hinaus können im Rahmen der Ganztagsbetreuung praktische Lernaufgaben, die mit Unterrichtsinhalten in Verbindung stehen, dabei helfen, das Lernen alltagsintegriert und methodisch breiter anzulegen. Dadurch können auch solche Kinder intensiver begleitet werden, die eine individuellere Förderung benötigen. So können beispielsweise die Erzieher:innen des Nachmittagsbereichs sich bietende Schreibgelegenheiten aufgreifen, die eine alltagsintegrierte Vertiefung ermöglichen: Einzelne Drittklässler:innen fertigen in den Nachmittagsstunden ein Rezeptbuch an, in das sie alle Rezepte für Gebäck, welches sie für die Vespermahlzeiten herstellen, aufschreiben. Einzelne Blätter werden mit Überschriften versehen, alphabetisch geordnet, illustriert und mit einer einfachen Technik zu einem kleinen Büchlein gebunden.

Mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung stellt sich auch für die Waldorfschulen die Frage nach einem entwicklungs- und gesundheitsfördernden Ansatz neu. In einer gelungenen Ganztagsbetreuung können sogenannte formelle, halbformelle und informelle Lernangebote miteinander verbunden werden, wobei die Interessen und Bedürfnisse der Kinder handlungsleitend sind. Formelles Lernen ist angeleitetes Lernen, etwa in der Schule. Informelles Lernen passiert quasi ohne Absicht im Alltag oder in der Freizeit. Dadurch wird die Schule zu einem Lebensraum für die Kinder, die sie besuchen, und für die Erwachsenen, die in ihm wirken. Unsere Ganztagseinrichtungen bieten verlässliche pädagogische Umgebungen und Beziehungen an. Sie geben sinnstiftende Anregungen, die den Kindern ein Wohlgefühl vermitteln und es ihnen ermöglichen, ihre Kräfte in einem sinnerfüllten Erleben und Tun in Freiheit entfalten zu können.

Einatmen, ausatmen
 

Die Waldorfpädagogik verfolgt darüber hinaus einen gesundheitsfördernden Ansatz. An erster Stelle steht eine Rhythmisierung des Alltags. Gestalten Pädagog:innen in Ganztagsschulen und Horten rhythmisierte Abläufe, dann bedeutet das in erster Linie, dass sie den täglichen Wechsel von Schlafen und Wachen, Anspannung und Entspannung, Aktivität und Ruhe in ihre konzeptionellen Überlegungen einbeziehen. Nach Steiners Allgemeiner Menschenkunde sollte ein ganzer Schulltag grob in zwei Phasen unterteilt werden. Er spricht zunächst von einer Phase des «Einatmens», die überwiegend den Vormittag prägt. Mit «Einatmen» sind das Aufwachen, die Konzentration und geistige Tätigkeiten wie Aufnehmen und Zuhören gemeint. Die Phase des «Ausatmens» durchzieht vor allem die Nachmittagsstunden. Sie dauert bis in den Abend hinein an und ist eher regenerierenden Prozessen wie Ausruhen, Entspannen, körperlichen, handwerklichen oder künstlerischen Tätigkeiten gewidmet.

Die pädagogische Alltagsgestaltung in Waldorf-Ganztagsgrundschulen und -Horten ist weitestgehend so konzipiert, dass beide Qualitäten sich – unabhängig von der Tageszeit – mehrmals täglich abwechseln, sowohl im Großen als auch im Kleinen. Ein atmender Rhythmus zwischen Perioden von konzentriertem Lernen und ausatmenden Aktivitäten wie Zeichnen, Singen, handwerklichem Arbeiten oder Bewegungseinheiten ist die Grundlage der Unterrichtsgestaltung an Waldorfschulen.

Aufgrund dieser Überlegungen sind in der Praxis der Nachmittagsbetreuung Konzepte entstanden, die es ermöglichen, in der Zeit nach dem schulischen Unterricht eine pädagogisch begleitete Freizeit zu genießen, in der die Umsetzung eigener Bedürfnisse und Impulse – im Sinne des Ausatmens – im Vordergrund stehen. Die im Schulalltag aufgenommenen Inhalte können so aktiv verarbeitet werden. Mit zunehmendem Alter sind auch Nachmittagsunterrichte möglich, wenn deren Inhalte einen ausatmenden Charakter haben, das heißt, wenn der Unterricht zu den handwerklichen, künstlerischen oder sportlichen Fächern gehört. Ein Gleichgewicht zwischen freier Spielzeit, künstlerisch-handwerklichen Angeboten und den Anforderungen des Unterrichts sollte stets im Blick behalten werden. Eine zu stark strukturierte Ganztagsbetreuung könnte diesem Ansatz widersprechen. Freie Spielzeiten und unverplante Freizeit sind essenziell für eine gesunde kindliche Entwicklung, egal ob zu Hause oder im Hort.

Werden Arbeitszeiten von Lehrkräften, Erzieher:innen und anderen Fachkräften überdacht und eventuell neu strukturiert, können Überschneidungen in der Begleitung der Kinder ermöglicht und der Austausch erleichtert werden. Bei entsprechenden Arbeitszeitmodellen könnten Lehrkräfte auch den ein oder anderen Abschnitt des Tagesablaufs am Nachmittag begleiten oder einzelne Schüler:innen nach dem Unterricht individuell fördern. Außerdem besteht im Rahmen der Ganztagsschule die Möglichkeit, dass Erzieher:innen und Lehrkräfte einzelne Bestandteile des Unterrichts, eine aktive Pausengestaltung oder partizipative Elemente im Wochenlauf, zum Beispiel den Klassenrat, gemeinsam gestalten.

Gemeinschaft


Waldorf-Ganztagsschulen und -Horte sind Orte einer verbindlichen sozialen Gemeinschaft, die dem Kind auch in den Mittags- und Nachmittagsstunden sowohl eine räumliche als auch eine soziale Beheimatung ermöglichen. Vor dem Hintergrund der Bedingungen heutigen Aufwachsens kann eine verlässliche Kindergemeinschaft eine große Bereicherung sein. Kinder entwickeln durch das längere Zusammensein intensivere Beziehungen zu ihren Mitschüler:innen und natürlich auch zu den Pädagog:innen, was ihr Gemeinschaftsgefühl insgesamt positiv stärken kann und damit auch einen wichtigen Beitrag für die Resilienzförderung leistet. Gemeinschaft bedeutet, sich mit den Vorstellungen, Wünschen und Interessen der anderen Kinder auseinanderzusetzen, Kompromisse zu finden und handlungsfähig zu sein. Ein wichtiger Ort für diese Lernerfahrung ist das freie Spiel. So kann die Waldorfganztagsschule als eine Chance für die Kinder gesehen werden, Entwicklungsräume zu erleben, deren Vielfältigkeit weit über den eigenen familiären Horizont hinausreicht. Die Sozialgestalt der Waldorfschule sollte so beschaffen sein, dass die Kinder sich mit ihren Ideen und Wünschen einbringen können. Partizipative Handlungsmöglichkeiten wie Regelkreise, Klassenrat, Briefkästen für Rückmeldungen, aber auch gemeinschaftlich organisierte Dienste sind Möglichkeiten, den Kindern im Rahmen des Ganztags Teilhabe zu ermöglichen und damit letztendlich demokratiebildend zu wirken.

Einen verantwortungsvollen Beitrag zur Gesundheitsförderung leisten Pädagog:innen bei der Bildung von Ernährungsgewohnheiten und der Ermöglichung von Ruhepausen.
Das Bedürfnis nach Rückzug gehört zu den universellen Bedürfnissen des Menschen. Um diesem Bedürfnis auch in der Ganztagsschule gerecht zu werden, werden innerhalb und außerhalb der Schulgebäude Zeiten und Orte für den Rückzug gebraucht, wo Kinder eine Pause vom lebhaften Schulalltag haben und sich entspannen können.

Viele Perspektiven sind wichtig


Die Umsetzung der Ganztagsbetreuung birgt Chancen und Herausforderungen. Menschen mit unterschiedlichen Professionen und Erfahrungen bringen ihre Perspektiven ein und  jede Perspektive ist gleich wichtig. Die in diesem Artikel beschriebenen Bildungsimpulse sind nur umsetzbar, wenn alle am Prozess beteiligten Akteur:innen Hand in Hand arbeiten. Eine wertschätzende und gelingende Kommunikation und Kooperation sind die Grundvoraussetzungen dafür. Auch die finanzielle Ausstattung von Waldorfganztagsschulen spielt eine zentrale Rolle, da sie die Rahmenbedingungen für die pädagogische Arbeit, die Teamkultur und die Qualität der Angebote beeinflusst.Waldorfpädagogik kann nur durch ständige Neu- und Weiterentwicklung wirksam werden. Dadurch, dass sie keine «Rezeptpädagogik» ist, die «bloß äußerlich an[zeigt], was zu tun sei», wird sie erst lebendig, «wenn sie durch Menschen in der Gegenwart aus der geistigen Aktivität immer neu entsteh[t].» So formulierte es einst Heinz Zimmermann, der Waldorfpädagoge war und von 1989 bis 2001 die Pädagogische Sektion am Goetheanum leitete. Aus diesem Grund ist die ständige Weiterentwicklung des pädagogischen Handelns eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde Ganztagsbetreuung.

Sylvia Ramps Buch Praxis der Alltagsgestaltung in Waldorfganztagsgrundschulen- und Horten erscheint voraussichtlich im Frühsommer 2025 bei Beltz Juventa.

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