Ausgabe 10/24

Rhythmen tragen uns durchs Leben

Nathanael Dreißig
Bild: earlysummer / photocase.de

Finden Sie es nicht auch bemerkenswert, dass wir Menschen beizeiten müde werden und schlafen müssen, um überleben zu können? Dass wir uns etwa 30 Prozent der Zeit unseres Lebens in einem Zustand ohne Bewusstsein befinden? Und dass unsere Kräfte stark nachlassen, je kürzer wir schlafen? Und haben Sie sich schonmal gefragt, warum wir dann – nicht irgendwann, sondern nach einer ungefähren Zeit, wieder aufwachen? Nehmen wir eines vorweg: Die Frage, warum wir schlafen müssen, ist bis dato nicht geklärt. Unbestritten ist, dass der Schlaf wichtig ist für die Regeneration. Für die Entgiftung des Gehirns. Als Prophylaxe gegen schlechte Laune. Auch das Immunsystem scheint vom Schlaf zu profitieren. Der Schlaf an sich ist phänomenologisch ziemlich genau analysiert. Die Schlafarchitektur mit ihren wiederholend aufeinanderfolgenden Schlafphasen kann genau gemessen werden – sogar Handy-Apps wähnen sich dazu in der Lage. Ist die Schlafarchitektur gestört, sind bestimmte Erkrankungen häufiger, je nach gestörter Schlafphase. Aber die Ursache des Schlafes an sich: ungeklärt. Warum diese Art der Regeneration nicht auch im wachen Zustand vonstattengehen kann, ist nicht genau erklärt. Und wir können uns gegen den Schlaf schlecht wehren.

Über Rhythmen ist vieles bekannt und in unserer Gesellschaft sind Rhythmen fest verankert. Ursprünglich bedingt durch die Planeten. Das beginnt bei den Rhythmen der Jahreszeiten mit den Jahresfesten bis hin zu den Monaten und der Woche mit ihren Wochentagen, die ihrerseits ihre Namen von den Gestirnen haben. Ein rhythmischer Tagesverlauf im Familienalltag birgt Kräfte, die für eine gesunde Lebensstruktur wichtig sind. Warum das so ist, ist in der heutigen Zeit sicherlich nicht mehr auf jede Familie oder jede Situation anwendbar. Wir müssen uns aber bewusst machen, dass unser Organismus mit und durch verschiedene Rhythmen überhaupt am Leben erhalten wird und eine permanente Inkonstanz der äußeren Rhythmen (primär Essen, Schlafen, Arbeit) zu einer folgenden Anpassung des Stoffwechsels einhergeht, die Kräfte zehrt.

Rhythmische Welt
 

Beim Blick in diese unsere Welt und die Natur sind wir umgeben von Rhythmen. Das Leben ist durchdrungen von sich periodisch ändernden Zuständen, die in sich jedoch eine konstante Stetigkeit haben. Das Wort Rhythmus leitet sich aus dem Griechischen rheein ab – fließen. Das ist insofern interessant, als dass hier zwar eine wiederkehrende Periodik erkennbar ist, die sich jedoch in ihrem Fortschreiten stets ändert, anpasst, voranträgt. Als ob wir in einen fließenden Bach blicken, bei dem sich das Wasser in tausend unterschiedlichen Geschwindigkeiten voranbewegt und gleichzeitig stetig fließt.

Der Organismus braucht Rhythmus
 

Der Kern des Rhythmus ist der wiederkehrende Ausgleich zweier Polaritäten, ohne den es kein Leben gäbe. Denken wir an die Rhythmen unseres Organismus, fällt uns meist spontan die Atmung ein. Das Ein- und Ausatmen. Der Oxygenierung und Decarboxylierung. Zumeist im Verhältnis 1:2. Und natürlich unser Herzschlag, den wir tasten und manchmal sogar spüren und hören können. Diese beiden Rhythmen, werden von komplexen Systemen im Körper kontinuierlich überwacht und an die jeweiligen Situationen angepasst.

Für das Verständnis der Medizin werden häufig einzelne Kausalzusammenhänge des menschlichen Organismus selektiert und isoliert betrachtet. Und zwar so isoliert, dass in vielen Fällen zwar bestimmte Ursache-Wirkungskaskaden beleuchtet, dechiffriert und reproduzierbar dokumentiert werden können – ihre wichtige Rolle im Gesamten allerdings nur einen Teil des Gesamten darstellt – sozusagen nur ein phänomenologisches Quantum – und damit ist es per se zunächst einmal unvollständig. Diese Art Lupe auf einzelne Komponenten des menschlichen Körpers ist aus didaktischen Gründen häufig unvermeidbar – für das Verständnis des ganzen Menschen ist es allerdings notwendig, diese hervorgehobenen Phänomene in den Kontext des Lebens und Organismus zu betten, um sie zu begreifen. Bei den Beispielen des Atmungs- oder Herzkreislaufsystems handelt es sich um zwei einleuchtende Beispiele solcher phänomenologisch erkennbaren aber aus dem Gesamtorganismus selektierten Funktionszusammenhänge. Ohne Rhythmen wäre Leben in dieser Form nicht möglich. Bleiben wir zunächst einmal bei diesen beiden Rhythmen. Sie sind ohne Zweifel für uns überlebensnotwendig. Und können bei Veränderungen erste Indikatoren für eine Erkrankung sein.

Atem und Herz
 

Atem- und Herzrhythmus sind eng aneinandergekoppelt. Zum Beispiel kann man messen, dass sich die Herzfrequenz physiologischerweise beim Einatmen erhöht und bei der Ausatmung senkt. Es handelt sich um eine physiologische Variabilität der Herzfrequenz und wird als Teil der Herzratenvariabilität bezeichnet. Diese Variabilität gilt als Indikator für die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Körpers auf endogene oder exogene Stressoren. Dabei ist die Anpassungsfähigkeit proportional zur Herzratenvariabilität: Ist die Variabilität geringer, ist der Körper weniger anpassungsfähig – ist sie höher, ist auch die Anpassungsfähigkeit größer.

Mit dieser engen Verbindung von Atem- und Herzrhythmus, lässt sich über unsere Atmung einen direkten Zugang zum Herz-Kreislauf-System erkennen. Über bestimmte Atemtechniken oder in Akutsituationen auch mit bestimmten Atemmanövern, können wir eine gewisse Kontrolle auf unsere Herzfrequenz erwirken.

Wir befinden uns, wenn wir die Ein- und Ausatmung nach anthroposophischen Gesichtspunkten betrachten, im sogenannten Rhythmischen System des Dreigliedrigen Menschen. Das System also, dass sich in der Mitte zwischen dem oberen und unteren Menschen befindet und also eine Art Vermittlerrolle zwischen auf- und abbauenden Kräften einnimmt. Physiologisch betrachtet, wird mit jedem Einatmen ein bestimmter Anteil des in der Außenluft befindlichen Sauerstoffs in die Lungen aufgenommen und von den roten Blutkörperchen aufgenommen. Gleichzeitig geben sie das durch den Stoffwechsel angefallene Kohlendioxid über die Lunge an die Ausatemluft ab. Das Blut ist schon für sich genommen ein eigener Organismus, der zwischen Auf- und Abbau im steten Ringen um wiederkehrende Gesundung steht und nicht nur von der Lunge durch Oxygenierung, sondern etwa auch durch die Milz regeneriert, also verlebendigt wird und seine ganz eigenen Rhythmen aufzeigt. Ein Rhythmus zwischen Auf- und Abbau. Zwischen Gesundung und Krankheit, der überlebenswichtig ist und ohne den es keine Möglichkeit der Erneuerung und Anpassung geben kann. Dieses Rhythmik-Prinzip, das wir beispielhaft im Herzkreislaufsystem angedeutet haben, finden wir im gesamten Organismus. Den Systemen. Den Zellen. Die betrachteten Rhythmen des Herzkreislaufsystems oszillieren innerhalb von Sekunden und Minuten. Wir messen die Atemfrequenz in Atemzügen und die Herzfrequenz in Schlägen pro Minute. Was hat es nun aber mit den Tagesrhythmen auf sich? Den, zunächst einmal verborgenen, Taktgebern im Tagesverlauf? In der Medizin sprechen wir von den sogenannten dianen Rhythmen.

Chronobiologie
 

Diane Rhythmen sind gar nicht so leicht zu identifizieren. Das Erheben von Daten für die Wissenschaft erfordert erst einmal eine vernünftige Fragestellung und ist allgemein mit einem enormen Aufwand verbunden. Trotz vieler Anstrengungen ist Vieles noch nicht durchdrungen. Es geht um die Erforschung der sogenannten inneren Uhr. Die schulmedizinische Forschung zu den endogenen, also im menschlichen Organismus wirkenden zeitlichen Rhythmen, nennt sich Chronobiologie. In den letzten Jahrzehnten wurden auf diesem Gebiet viele neue Erkenntnisse gewonnen. Die Ergebnisse waren auch für die medizinische Forschung derart bahnbrechend, dass dafür im Jahre 2017 der Nobelpreis für Medizin und Physiologie an drei amerikanische Chronobiologen verliehen wurde.

Bei den Untersuchungen zur Chronobiologie spielt die Fruchtfliege eine entscheidende Rolle. Sie lässt sich einfach züchten, die ethischen Hürden sind – mindestens was die Vorgaben angeht – niedrig und was spannend ist: auch bei Fruchtfliegen lässt sich ein Tag-Nacht-Rhythmus feststellen. Rhythmen also, die eine im Tagesverlauf wiederkehrende Periodik aufweisen. Der am besten erforschte Rhythmus in der Chronobiologie ist der zirkadiane Rhythmus – also ein Rhythmus, der ungefähr 24 Stunden währt. Dass auch die Fruchtfliege über einen solchen Rhythmus verfügt, war 2017 keine neue Erkenntnis – vielmehr wurde bereits in den 1970er Jahren festgestellt, dass die Fruchtfliege im Tagesverlauf eine unterschiedliche Fortbewegungsaktivität aufweist, sowie im Tagesverlauf Veränderungen beim Puppenschlüpfen.

Neu war aber, dass es den Wissenschaftler:innen gelang, auf molekularer und biochemischer Ebene Mechanismen und Gene zu isolieren, die als Taktgeber fungieren. Einstellungs- und Synchronisationsmechanismen wurden entdeckt und es wurde belegt: fast alle Zellen haben dieses Prinzip der zirkadianen Rhythmik und passen sich mittels zellübergreifender Synchronisation exogenen und endogenen Einflüssen an. In den einzelnen Zellen der Fruchtfliegen wurden Gene und korrespondierende Proteine gefunden, die wie eine Uhr fungieren. Die Synchronisation gelingt durch eine streng hierarchische Ordnung. An der Spitze dieser Hierarchie steht die Master-Clock, die die zirkadiane Rhythmik für die neuronale Aktivität und für die Hormonausschüttung festlegt. Diese interne Synchronisation ist in einem ungefähren 24-Stunden-Rhythmus relativ gleichbleibend und wiederholt sich täglich (reine diane Rhythmen sind selten). Störungen dieser Rhythmik werden als Risiken für kardiovaskuläre und Stoffwechselproblemen, sowie als Trigger für krebserzeugende Zellveränderungen diskutiert. Die Anpassung des inneren Rhythmus an äußere Trigger ist kraftraubend für den Organismus. Konkret spüren wir solche Störungen der inneren Uhr beispielsweise, wenn wir in andere Zeitzonen fliegen und dort dann durch den bekannten Jetlag in einen desolaten Zustand kommen.

Das Zusammenspiel von innen und außen
 

Solche von außen wirkende Trigger nehmen teilweise direkt Einfluss auf die Master-Clock: In der Retina kommt es zur Stimulierung bestimmter lichtsensibler Nervenzellen, die die Melatonin-Ausschüttung hemmen. Melatonin ist das Hormon einer winzigen Drüse mitten im menschlichen Gehirn, das schlaffördernd wirkt. Wenn es gehemmt wird, bleiben wir eher wach. Interessanterweise reagieren diese hemmenden Nervenzellen insbesondere auf kurzwelliges blaues Licht, was relevant ist beispielsweise für die abendliche oder nächtliche Bildschirmzeit. Die Melatonin-Ausschüttung erfolgt physiologischerweise lichtunabhängig im Rahmen des zirkadianen Rhythmus über den endogen Zeitgeber.

Phänomenologisch ist ein Hormon für die zirkadiane Rhythmik zudem sehr wichtig: das Stresshormon Cortisol. Das ist eines der Hormone, die wir einigermaßen leicht messen können und die Cortisol-Ausschüttung im Tagesverlauf recht gut ableiten. Cortison zeigt ein charakteristisches 24-Stunden-Tagesprofil: Die Konzentration des Stresshormons steigt in den frühen Morgenstunden an und zeigt etwa gegen 8:30 Uhr die höchste Konzentration. Im Tagesverlauf sinkt die Konzentration wieder, um etwa gegen Mitternacht die niedrigsten Werte zu erreichen. Die Ausschüttung von Cortisol bewirkt, dass dem Körper Energie zu Verfügung gestellt wird und ist mit erhöhter Aufmerksamkeit und Aktivität assoziiert. Cortisol wird auch zusätzlich in Stresssituationen ausgeschüttet und interagiert ähnlich zum Beispiel der Adrenalinausschüttung mit dem Unterschied, dass Cortisol wesentlich träger wirkt. Cortisol wirkt katabol. Es löst Zucker- und Fettreserven auf und hebt den Blutzuckersspiegel an. Der Blutdruck steigt, das Immunsystem wird gehemmt. Wenn wir uns nur auf das Messbare verlassen, kann man anhand des Cortisol-Achse feststellen, dass Coritsol uns dabei hilft, aufzuwachen und energiegeladen in den Tag zu starten. Zumindest dann, wenn wir mit einem relativ konstanten Rhythmus leben.

Dieser phänomenologische Blick auf die biologischen Rhythmen macht deutlich, wie wichtig ein gutes Zusammenspiel bestimmter Organsysteme, Hormonachsen und biochemischer Kaskaden ist. Gleichzeitig verleitet es leicht zu einer mechanistischen Sichtweise auf den menschlichen Körper und schwächt das Bewusstsein für andere mögliche Einflüsse und für die Ursachen dafür, dass der Organismus so funktioniert, wie er es tut. Auch wenn wir uns in der modernen Medizin viele Kausalketten erschlossen haben und Phänomene mit erklärenden Theorien reproduzierbar geworden sind, die uns helfen, auch therapeutisch in die Physiologie oder Pathophysiologie des Menschen einzugreifen, kommt man bei der Erforschung der Rhythmen nicht umhin, auch die Natur, den Kosmos mit einzubeziehen.

Und sich auf Ursachenforschung zu begeben. Sich mit dem phänomenologisch Erkennbaren nicht zufriedengeben. Für die fundierte Beschäftigung mit den Rhythmen des Lebens, müssen wir unseren Blick weiten und auch die Einflüsse der Gestirne, der Zyklen der Natur beobachten und uns nicht zuletzt fragen, warum es überhaupt möglich sein kann, dass Leben in dieser wundervollen und spektakulären Form überhaupt möglich werden kann. Wie es sein kann, dass all die von uns Menschen selektierten Systeme zu einem Ganzen zusammengefügt zu dem werden können, was Mensch ist. Was wir sind. Und was wir werden.

Dann kommen die Antworten, warum wir schlafen, warum wir erwachen – ja, warum wir eigentlich leben können in all dieser wunderbaren Komplexität – vielleicht von woanders. Was wir aber schon jetzt können ist, den eigenen Rhythmen zu lauschen und uns selbst und unseren Kindern Kraft zu spenden, um sich in dieser unserer Welt zu integrieren.
 

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