«Atome sollten weniger als kleinste, die Materie aufbauende Teilchen, sondern eher als Wegweiser auf einer Landkarte gesehen werden, die uns durch die Welt der physikalischen und chemischen Phänomene führt», finden die beiden Professoren Dr. Wilfried Sommer und Dr. Dirk Rohde. Beide engagieren sich leidenschaftlich für die Lehrer:innenausbildung am Kasseler Lehrer:innenseminar und an der Universität Marburg. Ihr gemeinsames Projekt stärkt Schüler:innen in naturwissenschaftlichen Diskussionen und schärft ihr Bewusstsein für Naturphänomene.
Seit der Antike versuchen Wissenschaftler:innen, Materie als ein Konzept zu fassen. Von den Atomisten Leukipp und Demokrit im fünften Jahrhundert vor Christus bis hin zu modernen Wissenschaftlern wie Bohr, Schrödinger und Heisenberg – sie alle hatten unterschiedliche Vorstellungen. Diese reichen von unteilbaren Kugeln bis hin zu quantenmechanischen Wellenfunktionen samt der zugehörigen Wahrscheinlichkeitsverteilungen.
Mit moderner Technologie schaffen Sommer und Rohde interaktive Lernumgebungen. Sie nutzen Videotechnologie in ihrem zweimal wöchentlich stattfindenden Unterricht, um Schüler:innen ein tieferes Verständnis komplexer physikalischer und chemischer Konzepte zu ermöglichen. In einem Pilotprojekt testen sie, wie hybride Lehr-Lern-Formen in einem Oberstufen-Online-Campus aussehen können. Den Rahmen bildet ein Wahlpflichtunterricht der elften Klasse.
Der Physiker Niels Bohr sagte einmal: «Es gibt keine Quantenwelt. Es gibt nur eine abstrakte Quantenbeschreibung. Es ist irrig zu denken, dass es Aufgabe der Physik sei, die Natur so zu beschreiben, wie sie ist. Die Physik befasst sich nur mit dem, was wir über die Natur aussagen können.» Ähnlich wie Landkarten, die die reale Welt symbolisch darstellen, dienen auch Atome dazu, spezifische Aspekte der Materie abstrakt zusammenzuführen: beispielsweise Energie, Masse und Ladung. Entsprechend heißt die Überschrift des Wahlpflichtunterrichtes von Sommer und Rohde «Atome – Wechselbezüge von Stoff und Form».
Sommer erprobt diesen Zugang im ersten Teil des Projekts im Physikraum des Kasseler Lehrer:innenseminars. Er lädt die Schüler:innen der elften Klasse dazu ein. Auch Schüler:innen der Marburger Schule und Projektpartner Rohde als Chemielehrer sind zugeschaltet. Im zweiten Projektteil kehren sie die Rollen um: Rohde wird seine Schüler:innen im Chemieraum der Marburger Waldorfschule unterrichten und Sommer wird den chemischen Teil mit seinen Schüler:innen von Kassel aus verfolgen. «Seit Corona sind wir mit der Video-Technik vertraut», sagt Sommer. «Die Technik ist sehr preiswert, rund 2.000 Euro für eine gute Kamera, ein sehr gutes Mikrofon und einen geeigneten Monitor pro Standort. So können wir Schüler:innen an mehreren Orten gleichzeitig unterrichten und ihre Lehrkräfte fortbilden.» Dieser Unterrichtsansatz lässt sich auf eine Reihe von Schulen und auch auf verschiedene Fächer ausdehnen.
Nach einer Begrüßung beginnt Sommer jede Unterrichtseinheit mit einem Training der Fachsprache, welches auf den letzten Lektionen aufbaut. Er nutzt Schaltkreise und Diagramme, um mit den Schüler:innen zu üben, wie konkrete elektrische Systeme in abstrakte Modelle überführt werden. Heute zeichnet er eine Schaltung an die Tafel: Eine Kathode und eine Anode, beide aus Metall, in einem nahezu leeren Raum, fast ein Vakuum. Wird die Kathode erhitzt, bildet sich darüber eine elektrische Zone. Diese verändert sich, wenn Spannung zwischen Kathode und Anode angelegt wird. Dieses Phänomen wird sichtbar, wenn das verdünnte Restgas elektrisch zum Leuchten gebracht wird. Die Begriffe sind im Raum. Die Schüler:innen wissen, worauf sie sich im folgenden Experiment konzentrieren müssen.
«Kein Phänomen ist ein Phänomen, außer es ist ein beobachtbares Phänomen.» Mit diesen Worten unterstrich Niels Bohr die Wichtigkeit der Beobachtung in der Wissenschaft. Er formte unsere heutige Sicht auf Atomphysik und Quantenphänomene. Bohr betonte, dass direkte Beobachtungen uns helfen, wissenschaftliche Konzepte zu begreifen. Laut Sommer und Rohde liegen in unseren Beobachtungen bereits viele der symbolischen Formen, die wir später zum wissenschaftlichen Konzept abstrahieren.
Jetzt holt Sommer aus dem Vorbereitungsraum einen Tisch mit einem Experimentaufbau. Eine Glasröhre steht auf einer Pumpe. «Sie müssen die Schutzmasken aufsetzen. Die Pumpe erzeugt gleich ein Vakuum in der Glasröhre.» Sommer deutet auf die beiden Metallringe auf der linken und rechten Seite der Glasröhre. Beide Elektroden sind mit einem Hochspannungsnetzteil verbunden. Sommer schaltet das Gerät ein und legt beeindruckende 5.000 Volt an. Noch ist in der Röhre nichts zu sehen. Langsam saugt die Pumpe die Luft aus der Glasröhre, woraufhin zwischen Kathode und Anode ein roter Strahl aufleuchtet. Der Luftdruck wird weiter reduziert. Schließlich erscheinen rechts und links von den Metallringen an den Enden der Glasröhre leuchtende Punkte. Sommer erklärt, dass diese durch eine Beschichtung der Glasröhre verursacht würden, die elektrisch zum Leuchten angeregt wird. Einer Schülerin reicht er einen Magneten. Sie führt ihn entlang der Röhre, woraufhin einer der Strahlen abgelenkt wird. Sommer ergänzt, dass dort immer das gleiche Verhältnis von Ladung und Masse vorläge, was die Schüler:innen sofort in ihr Vorwissen einordnen können. Für sie macht der Ausdruck Elektronenstrahl Sinn.
«Funktioniert so eine Bildröhre?», fragt Yara. Sie soll versuchen, den Strahl jenseits der Kathode abzulenken. «Das ist extrem schwierig.
Warum?» Über Ionen will Sommer in der nächsten Stunde mit den Schüler:innen sprechen. David fragt: «Was ist das, was da in der Röhre fliegt?» «Die Glasröhre ist ein kleiner Teilchenbeschleuniger», meint Yara.
Dieser Unterrichtsansatz zeigt den Schüler:innen, dass wissenschaftliche Konzepte an Entscheidungen gebunden sind, bestimmte Aspekte eines Erscheinungsfeldes zu verfolgen und abstrakt zu fassen. In diesem Sinne sind sie Werkzeuge, um die Welt formal zu beschreiben, vielleicht sogar zu erklären. Sie stellen keine direkten Abbildungen der Realität dar. Indem die Schüler:innen Phänomene selbst beobachten und die Entscheidungen auf dem Weg zur Abstraktion diskutieren, lernen sie, zwischen subjektiver Erfahrung und abstraktem Konzept sowohl zu unterscheiden als auch Verbindungen zu sehen. Sommer hat eine ganze Reihe von Büchern verfasst, in denen Unterrichtsbeispiele ähnlich den geschilderten enthalten sind. Diese können eine Ressource darstellen für Lehrkräfte, die ihre Methodik bereichern und Schüler:innen auf innovative Weise für die Naturwissenschaften begeistern möchten. Schulen, die Interesse an einer Vertiefung ihres naturwissenschaftlichen Curriculums haben, möchten die beiden Experten Sommer und Rohde ermutigen, Kontakt mit ihnen aufzunehmen (wilfried.sommer@alanus.edu). Eine Teilnahme an einem der nächsten Atom-Projekte bietet nicht nur Schüler:innen, sondern auch Lehrkräften die Gelegenheit, von diesem neuen phänomenologischen Ansatz zu profitieren und ihre Kenntnisse im Umgang mit physikalischen und chemischen Fachtermini zu erweitern.
Ausgabe 07-08/24
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