«Ciao, benvenuti a Santa Maria!» Vor einer halben Stunde sind wir im Dorf Diacceto losgewandert, haben in der Locanda Tinti noch ein Eis gegessen und kommen nun froh gelaunt an. Der Ausblick auf die toskanische Landschaft ist atemberaubend.
Thomas und Paola öffnen das Gatter mit den hineingeflochtenen bunten Bändern und den aufgespießten Weinkorken und wir betreten das weitläufige Grundstück. Der Pfad führt zu einer Kirche, gesäumt von knorrigen Bergahornbäumen, die wie Skulpturen oder alte, eigenwillige Naturwesen dort stehen, dazwischen sind bunte Hängematten gespannt. Linker Hand eine kleine Wiese mit Eichen, Ahorn- und vereinzelten Obstbäumen. Dazwischen liegen Haufen von Marmorsteinen und selbstgezimmerte Bildhauerböcke: der Bildhauerplatz. Rechter Hand erstreckt sich eine große Wiese, die als Zeltplatz für Schulklassen dient, wenn es im Haus einmal zu voll wird.
Nähert man sich dem mittelalterlichen Bauernhaus und der romanischen Kirche, so verändert sich das urwüchsige Gelände: Natursteinmauern, Terrassen, Kräuterbeete, ein Feuerplatz, dazwischen kleine Artefakte, die von den vielen Gästen stammen, die hier seit 40 Jahren an diesen besonderen Ort kommen. Manche haben an Kunst- oder Meditationskursen teilgenommen, andere die Kunstfahrt der zwölften Klasse hier verbracht, wieder andere haben an der zweiwöchigen Bauzeit im Sommer teilgenommen oder während ihrer Wanderung entlang des Franziskusweges eine Atempause eingelegt.
Sich selbst wieder verwurzeln in der Erde
Die alte Bausubstanz des Haupthauses - früher Wohn- und Wirtschaftsgebäude - wurde über die Jahre liebevoll renoviert. Es kann etwa 35 Personen beherbergen.
Vor acht Jahren kam ich das erste Mal zum eremo di lavoro (Arbeitsklausur), um zwei Wochen lang zu arbeiten, zu meditieren und mich auf neue, unbekannte Menschen einzulassen. Seitdem habe ich über die Jahre Wände gekalkt, Zimmer eingerichtet, den Dreschplatz freigelegt, Blumenbeete angelegt und Bäume gepflegt, beim Bau des Materiallagers mitgeholfen, Landschaftspflege betrieben und unzählige Brombeersträucher aus der Erde gehackt. Warum ich trotz der körperlichen Arbeit in der Vormittagshitze und des recht strengen Tagesrhythmus à la «ora et labora» jedes Jahr meinen Sommerurlaub hier verbringe? Genau deswegen!
Santa Maria ist ein Ort der inneren Einkehr, der Begegnung mit mir selbst. Durch das ruhige, beständige Arbeiten in der Natur, durch Rhythmus und Stille, kann ich mich selbst wieder wahrnehmen, hören. Es ist wie ein Stoffwechselprozess. Gedanken und Gefühle, die sich das Jahr über angestaut haben, fließen durch den Leib als Arbeit in die Welt. Ein Eintrag im Gästebuch formuliert es so: «I depart feeling more balanced, centered and full of gratitude. The world belongs to those of us willing to get our hands dirty!» (Übersetzung: Ich reise ab und fühle mich ausgeglichener, fokussierter und dankbarer. Die Welt gehört denjenigen von uns, die bereit sind, sich die Hände dafür schmutzig zu machen)
Santa Maria ist ein Ort der Verbindung mit der Erde, ein Ort der Selbstlosigkeit und Begegnung. Nicht nur durch Meditation oder Kunst, sondern durch nützliche Tatkraft am Haus, im Garten, im Wald. Ich widme meine körperliche, seelische und geistige Kraft diesem einfachen und besonderen Ort. Wiedersehen mit bekannten, Begegnung mit unbekannten Menschen. Uns vereint die Arbeit, darüber lernen wir uns langsam und absichtslos kennen. Wertfreie Akzeptanz. Jeder findet seinen Platz in dieser archaischen Lebensgemeinschaft auf Zeit.
Sich ausstreckende Zweige, Verbindung zur Welt
Seit 1983 werden in Santa Maria Kurse in den Bereichen Bildhauerei, Malerei und Kunstgeschichte angeboten, meistens zweisprachig. Florenz ist mit Bus und Bahn in 40 Minuten zu erreichen. Waldorfschulen mit ihrem Fokus auf künstlerisch-handwerkliche Tätigkeiten fanden bald ihren Weg hierher. Während der Kunstfahrt praktizieren die Schüler:innen Steinbildhauerei und Malerei und nutzen die romanische Kirche als Klangkörper für ihren morgendlichen Gesang. Auf Ausflügen in die Natur und nach Florenz wird gezeichnet und die Kunst der Renaissance studiert.
Seit 2008 ist das Anwesen Besitz eines italienischen Vereins unter der Leitung von Paola Canu und Thomas Müller. Paola, aus sardischer Familie, und Thomas, mit amerikanisch-deutschen Wurzeln, haben den Ort mit viel Kraft und Liebe erneuert. Das Leitprinzip «tiefe Wurzeln und ausladende Zweige» ist ein Bekenntnis zum Ort mit Offenheit zur Welt. Spiritualität soll gepflegt und gelebt werden, ohne missionarischen Charakter. 2018 wurde die Kirche neu geweiht, hier finden kulturelle Veranstaltungen statt.
Aktuell sucht der Verein nach einer neuen Führung und Verwaltung des Eigentums und der Aktivitäten. Um eine gute Übergabe bis 2025 zu ermöglichen, braucht es jetzt schon Menschen, die sich mit diesem wertvollen Ort langfristig und verantwortungsvoll verbinden wollen. Bis dahin freuen sich Paola und Thomas über alle Menschen, die Santa Maria mit ihrer Anwesenheit und Tatkraft bereichern.
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