Abitur mit 0,7 – besser hätte Lisa Angelina Hennige (18) ihre Schulzeit an der Freien Waldorfschule Darmstadt nicht abschließen können. Auch Viola Schäfer (19), ehemalige Schülerin der FWS Oldenburg, kann mit einer Abinote von 1,1 eine exzellente Leistung vorweisen. Solche Ergebnisse gelingen mit außerordentlich viel Fleiß und einer überdurchschnittlich hohen Intelligenz, wie es bei den beiden jungen Frauen der Fall ist. Ganz ohne Lernen geht es zwar auch mit einem IQ von über 130 nicht, Lernstress hatten die beiden aber keinen. «Fürs Abi habe ich recht viel gelernt, es fiel mir aber auch sehr leicht und am Ende konnte ich dann wirklich alles zu 100 Prozent», erzählt Viola.
Für Lisa Angelina war vor allem das Timing entscheidend. Sie hat schon früh für sich gemerkt, wann sie gut lernen kann und teilt sich dementsprechend ihre Zeit ein. Fürs Abi hat sie es so gemacht wie immer: abends eine halbe Stunde ohne Ablenkung lernen. Passt. «Wenn ich mir einmal etwas merke, vergesse ich das auch nicht mehr. Das ist dann einfach verknüpft», sagt sie. Beim Lernen mit Mitschüler:innen kam auch der gegenseitige Austausch nicht zu kurz. «Es war einfach eine sehr schöne Zeit.» Nach dem geschafften Wochenpensum waren dann auch freie Tage drin. Das klingt nach Leichtigkeit und Freude am Erwerb von Wissen.
Interessen Raum geben
Tatsächlich ist für Lisa Angelina das Lernen mit viel Spaß verbunden. «Ich muss mich nie überwinden, mich hinzusetzen und zu lernen, weil ich es immer als einen Gewinn ansehe». Schon im Alter von drei Jahren fing sie an zu lesen und rechnen. Beim Schuleintritt hatte sie die komplette Kinderliteratur in ihrem Elternhaus einmal durchgelesen. Angesichts ihrer offensichtlichen Hochbegabung vermittelte ihr Kinderarzt sie noch im Vorschulalter an das Hochbegabtenforschungszentrum der Universität Marburg. Für die Forschenden hier bestand kein Zweifel, dass Lisa Angelina über einen überdurchschnittlich hohen IQ verfügte und sie schlugen vor, das Kind solle die erste Klasse direkt überspringen. Damit waren die Eltern jedoch nicht einverstanden – für sie war wichtig, dass ihre Tochter in einer stabilen Klassengemeinschaft aufwachsen sollte.
So kam Lisa Angelina zunächst in die erste Klasse der nahegelegenen Regelschule, in der sie jedoch schon bald unterfordert und gelangweilt war. «Ich hatte das Gefühl, ausgebremst zu sein», erzählt sie. Da für ihre Eltern die Lösung des Problems nicht im stetigen Überspringen von Klassenstufen lag, beschlossen sie, ihre Tochter an eine Waldorfschule zu schicken. Eine gute Entscheidung, wie Lisa Angelina rückblickend findet. «Seitdem ging es mir wieder gut. Hier konnte ich meine Interessen breit aufstellen.» Ihre ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten wurden ergänzt durch handwerkliche Tätigkeiten in Garten und Werkstatt, musische und künstlerische Betätigung sowie Bewegung wie der Eurythmie. Und das von der zweiten bis zur achten Klasse in einer festen Klassengemeinschaft.
Drei hochbegabte Schwestern
Anders als Lisa Angelina besuchte Viola von Anfang an die Waldorfschule. Hochbegabung war für sie zunächst kein Thema, bis ihre ältere Schwester im Unterricht so unterfordert war, dass ein Lehrer ihre Eltern darauf aufmerksam machte. Die wandten sich infolgedessen an die Hochbegabtenförderung der Stadt Oldenburg. Da Hochbegabung oftmals auch die anderen Geschwister betrifft, wurden Viola und ihre Zwillingsschwester ebenfalls einem Test unterzogen. Das Ergebnis: Alle drei Schwestern haben einen IQ von über 130 und sind damit hochbegabt.
Als diese Info kam, war Viola in der siebten Klasse. Zwar sei ihr das Lernen immer schon sehr leichtgefallen und sie habe stets gute Note gehabt, berichtet sie. Gelangweilt habe sie sich aber nicht in der Schule. Für sie war das mit dem IQ eigentlich keine große Sache. «Das gehört eben einfach zu mir dazu.» Mit Feststellung der Hochbegabung änderte sich allerdings ihr Essverhalten, wie ihre Mutter feststellte. Statt sich wie üblich nur von Brot und Nudeln mit Tomatensoße zu ernähren, griff Viola nun auch mehr zu anderen Nahrungsmitteln. Das könnte im Zusammenhang mit der Diagnose Hochbegabung stehen, wie ihre Mutter von anderen Eltern hochbegabter Kinder erfuhr.
Förderung entscheidend
Laut der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind gelten etwa zwei Prozent der Kinder als hochbegabt. Sie zeichnen sich durch sehr früh entwickelte und weit überdurchschnittliche Interessen und Fähigkeiten aus. Hochbegabung ist ein relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal, dessen genaue Ursachen noch weitgehend ungeklärt sind. Forschende gehen davon aus, dass eine Mischung aus Genen und Umweltfaktoren eine Rolle bei der Entwicklung überdurchschnittlicher Begabungen spielt. Die können sich in herausragenden schulischen Leistungen ausdrücken, müssen aber nicht zwingend.
Inwieweit sich eine Hochbegabung entfalten kann, hängt stark von den äußeren Bedingungen ab. Ein liebevolles, familiäres Umfeld mit vielfältigen Lernmöglichkeiten, beispielsweise in Form von Büchern, künstlerischer Betätigung oder Musizieren, wirkt sich günstig aus. Andersrum kann eine Hochbegabung auch verkümmern, wenn sie nicht frühzeitig erkannt und gefördert wird. Auch können Verhaltensauffälligkeiten auf eine nicht adäquat ausgelebte Hochbegabung hindeuten. Umso wichtiger ist es, als Eltern, Pädagog:innen und Lehrkräfte sensibel auf Anzeichen einer möglichen Hochbegabung zu achten und Kinder und Jugendliche entsprechend zu fördern und zu begleiten.
Verstanden werden
Begleitet wurde Lisa Angelina nicht nur von ihrer Familie und aufmerksamen Lehrkräften. Auch mit der Hochbegabten Beratungsstelle der Universität Marburg steht sie nun schon seit vielen Jahren in Kontakt. Bei der Beratungsstelle konnten sich auch ihre Lehrer:innen im Umgang mit der überdurchschnittlichen Leistungsfähigkeit der Schülerin beraten lassen. «Die Lehrer haben es nie dazu kommen lassen, dass mir langweilig wurde», erzählt Lisa Angelina. «Wenn ich fertig mit einer Aufgabe war und die anderen nicht, habe ich denen geholfen. Ich durfte auch mal eine Unterrichtsstunde mitgestalten.» In der neunten Klasse kam es doch zum Überspringen einer Klasse: Auf eigenen Wunsch wechselte Lisa Angelina in die nächsthöhere Klasse.
Für Viola war Überspringen kein Thema, auch wenn das Zusammensein mit Klassenkamerad:innen mit Beginn der Mittelstufe schwieriger wurde. «Da waren einfach keine gemeinsamen Interessen», gibt sie zu. Violas größtes Hobby ist Fußball. Hier traf sie dann auch ihre Freundinnen. Nachdem sich die Schülerin in der elften Klasse in einer Facharbeit sehr intensiv mit Hochbegabung auseinandergesetzt hatte, wurde ihr auch klarer, warum sie anders tickt oder manchmal älter gewirkt hat als Gleichaltrige. Total anders gefühlt habe sie sich aber nie: «Dadurch, dass meine Schwestern auch hochbegabt sind, war ich auch zu Hause nicht anders, sondern wir waren alle gleich.»
Ausgleich schaffen
Aktuell studiert Viola an einem College in den USA. Dort hat sie ein Fußballstipendium bekommen. Ob sie das Studium hier zu Ende macht, weiß die 19-Jährige noch nicht. Vielleicht kommt sie nach einem Jahr wieder zurück nach Deutschland und studiert dann Psychologie.
Lisa Angelina beginnt diesen Winter ebenfalls mit einem Studium: Physik und Musik. Die junge Frau spielt schon seit dem vierten Lebensjahr Geige, hat im Alter von sechs Jahren mit Klavier angefangen und schon fünfmal bei Jugend musiziert mitgemacht – mit Auszeichnung.
Neben ihren ausgeprägten logischen und musischen Fähigkeiten bewegt sich Lisa Angelina gerne beim klassischen und modernen Tanz, den sie in einer Leistungssportgruppe betreibt. Außerdem reitet sie und trainiert momentan für ihren ersten Halbmarathon. «Ich habe im Privaten immer einen Ausgleich gehabt und mir Herausforderungen auch außerhalb der Schule gesucht», erzählt sie. Auch das ist eine außerordentliche Eigenschaft einer gelebten Hochbegabung: Zu wissen, was es braucht, um in der eigenen Mitte zu bleiben.
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