In Bewegung

Schutz gegen Gewalt an Schulen

Eva Wörner, Kirsten Heberer

Eva Wörner | Ich kann mich gut an den Beginn unserer gemeinsamen Arbeit erinnern. Wir wussten beide nicht, wohin die Reise gehen wird. Dass wir heute mit allen Mitgliedseinrichtungen im Bund der Freien Waldorfschulen zum Thema Schutzkonzept im Austausch sind, ist ein Erfolg. Es war gut, dass wir beharrlich dafür gearbeitet haben. Und es war gut, die Offenheit von Einzelnen dem Thema gegenüber zu erleben.

Kirsten Heberer | Wir haben mit der Broschüre, die inzwischen bereits in dritter Auflage erschienen ist, eine gute Handreichung für die Schulen entwickelt. Diese schulischen Schutzkonzepte sollen nicht nur Missbrauch in der Schule verhindern, sondern insbesondere dafür sorgen, dass Schüler:innen, die andernorts sexuellen Missbrauch oder Übergriffe erleiden, hier eine kompetente, verstehende und helfende Ansprech- und Vertrauensstelle finden, dies gleichermaßen für alle Formen von Gewalt und für alle Mitarbeiter:innen im Schulsystem.

EW | Seit über drei Jahren arbeiten wir intensiv an dem Thema. Die dritte Auflage der Broschüre zeigt die Entwicklung. So hat zum Beispiel die Kooperation mit der Schulsozialarbeit für viele Schulen eine erweiterte Kompetenz gebracht und wir haben aus den Rückmeldungen von betroffenen Menschen erkannt, dass es auch um Aufarbeitung von Vorkommnissen in der Vergangenheit gehen muss.

KH | Die Aufarbeitung ist ein ganz wichtiger Bereich. Hinschauen, mit den Themen und auch den Verletzungen umgehen. Strukturen spielen dabei eine große Rolle. Sind die Strukturen Laissez-faire oder eng und hierarchisch, beides bietet die Möglichkeit für Grenzverletzungen und Übergriffe.

In den drei Jahren ist noch mehr geschehen, Du erinnerst Dich, unser erstes Forum Gewaltprävention war im September 2021. Dieses Forum, welches zweimal im Jahr stattfindet, ist inzwischen ein wichtiger Bestandteil im Bereich Fort- und Weiterbildung sowie Vernetzung der Schulen und Einrichtungen geworden. Für mich gehören dazu auch die Online-Fortbildungen zum Schutzkonzept. Zukünftig werden wir im Online-Format auch den Austausch der Einrichtungen untereinander anbieten.

Kooperation und Beratung

EW | Es war mir von Anfang an wichtig, dass ich mich beraten lasse, auch von Menschen, die außerhalb unseres Waldorfsystems mit Kinderschutz und Missbrauch im Kontext Schule zu tun haben. Ich habe gelernt, dass neben Vertraulichkeit, vor allem die Unabhängigkeit eine zentrale Rolle im Thema spielt. Unabhängigkeit im Sinne von Neutralität. Betroffene Menschen wollen gehört und ernst genommen werden. Leider kann ihnen das innerhalb eines bestehenden Systems nicht immer zugesichert werden.

KH | Das habe ich bei meiner Ausbildung bei Wildwasser (gemeinnützige Facheinrichtung gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen) sehr deutlich erlebt und kann das nur bestätigen. Der Kontakt zu den öffentlichen Beratungsstellen ist ausgesprochen wichtig. Unabhängige Meinungen können hilfreich bei einer möglichen systemischen Wahrnehmung sein, das heißt konkret, für ein Opfer gehören auch Kolleg:innen eines Täters oder einer Täterin zum System, dem nicht mehr vertraut wird.

EW | Im Krisenfall steht im Notfallplan der Einrichtung eine externe Ansprechstelle, die kann unmittelbar helfen, einen Fall zu beurteilen. Oft sind die involvierten Personen zunächst so betroffen, dass der urteilsfähige Blick unterstützt werden muss. Es gibt fast in jeder Kommune Fachberatungsstellen, die für alle zugänglich sind. Den Kontakt dahin ohne Krise schon mal zu knüpfen, kann auch für Fort- und Weiterbildungen genutzt werden.

Gewaltprävention als Baustein interner Qualitätssicherung

EW | Insbesondere die Arbeit am Code of Conduct (Verhaltenskodex für Mitarbeitende) hat gezeigt, dass es für die Einrichtung hilfreich ist, Klarheit in den Verabredungen zu treffen. Sehr schnell wird einem Kollegium, einer Elternschaft oder auch Schüler:innen klar, was nicht transparent ist, was nicht geregelt ist und welche unterschiedlichen Bedürfnisse beachtet werden müssen, damit weder psychische noch physische Gewalt im Schulganzen passieren.

KH | Ich denke dieser Baustein ist für die Schulen die größte Herausforderung. Alte eingeschliffene Themen, Verhaltensweisen und Vorgänge aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten, ist herausfordernd. Das bedeutet, alte Gewohnheiten mit kritischem Blick zu betrachten und ein verändertes Bewusstsein zu entwickeln. Du kennst auch die Sätze, «das haben wir schon immer so gemacht» oder «daran gewöhnst Du Dich schon». Der veränderte Blick sagt, ich muss mich nicht daran gewöhnen, habe meine eigenen Grenzen und kann diese benennen ohne Sorge haben zu müssen, nicht mehr in der Schulgemeinschaft akzeptiert zu werden. Für diese Haltung muss ich mir meiner eigenen Grenzen bewusst sein.

EW | Die Selbstreflexion ist das zentrale Moment in der Erarbeitung aller Bausteine im Schutzkonzept. Für den Code of Conduct kann ich mit der Frage «Wo sind meine Grenzen?» sehr schnell zu Verhaltensregeln kommen. Dass dies an einer Schule sehr unterschiedlich sein kann, gehört zum Prozess dazu. Schüler:innen in der Sportumkleide haben ein anderes Verständnis von Grenzen als die zuständige Lehrkraft. Dennoch ist es eine Frage der inneren Haltung gegenüber den Anderen in einem komplexen Organismus, wie einer Schule, in der es um Aufsicht und Verantwortung und Erwartungen geht.

KH | Dann sind wir schon bei der Haltung. Wie ich bereits erwähnte, ist der Code of Conduct der knackigste Punkt in den Bausteinen. Aus welcher Haltung handle und spreche ich? Was bedeutet es, eine pädagogische Haltung zu haben? Auf der anderen Seite ist in dem goldenen Dreieck (Eltern, Schule, Kind) zu fragen: mit welcher Haltung begegnen die Eltern der Schule? Partizipation kann durch diese Arbeit gut Einzug halten.

EW | Wenn es gelingt, mit allen ein gutes Miteinander zu verabreden, in dem ganz klar ist, was geht und was nicht geht, hat das eine große Auswirkung auf die Qualität der Schule als Ganzes, davon bin ich überzeugt.

KH | Mir fällt ein Zitat von Steiner ein: «Waldorfpädagogik ist kein pädagogisches System, kein Programm, sondern eine Kunst, um dasjenige, was da ist, im Menschen aufzuwecken.» Das ist meiner Meinung nach an einem Ort möglich, an dem sich Schüler:innen entwickeln und nach ihren sichtbaren und unsichtbaren Möglichkeiten voller Vertrauen entfalten können. Dafür ist die Sicherung der Qualität wichtig und hilfreich, wie Du sagst. Alle Schulzugehörigen können dadurch eine gewisse Sicherheit und Vertrauen haben, wenn Schule ein sicherer Ort ist, und Kinder und Jugendliche, Mitarbeiter:innen und Eltern wissen, wohin sie sich wenden können. Sollte tatsächlich etwas geschehen, sind sich alle im Schulsystem bewusst, was die nächsten Schritte sind. Der Interventionsplan ist dabei eine klar strukturierende Hilfe, wenn alle wissen, dass und wie sie danach handeln können. Es ist viel geschafft, wenn das alles gegeben ist.

Broschüre Gewaltprävention

Eva Wörner ist unter anderem Mitglied im Bundesvorstand der Freien Waldorfschulen und Dozentin und Geschäftsführerin am Seminar für Waldorfpädagogik in Frankfurt am Main. woerner@waldorfschule.de

Kirsten Heberer ist unter anderem tätig in der Schlichtungs- und Beschwerdestelle beim BdFWS tätig, Expertin für Gewaltprävention, Hochsensibilität, Hochbegabung und Diversity-Organisationsentwicklung. heberer@waldorfschule.de

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