Bei mir waren es als Jugendliche die Bücher von Hermann Hesse, die mich mit dem Gedanken versöhnten, dass ich so wie alle Menschen sterblich bin und mir die überraschende Idee aufzeigten, dass der Tod auch etwas Schönes sein könnte. Nachhaltig beeindruckt hat mich auch der letzte Satz in Kafkas Erzählung Eine kaiserliche Botschaft: «Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt», enthielt für mich den Trost, dass so manches, was ich mir erträumte, ja vielleicht doch passiert war, auch wenn ich davon nie etwas erfahren habe.
Geschichten finden auf ganz unterschiedlichen Wegen zu uns. In Gesprächen hören wir Geschichten, die anderen passiert sind. In Büchern, Filmen oder Hörspielen tauchen wir ein in Geschichten diverser Genres. Dabei ist es für die Wirkung der Geschichte nicht nötig, dass sie «wahr» ist, sondern sie muss eine Möglichkeit wiedergeben. Und im besten Fall schwingt etwas in uns mit.
Diese Ausgabe der Erziehungskunst beschäftigt sich mit dem mündlichen Erzählen von Geschichten, welches in der Waldorfpädagogik eine wichtige Rolle spielt. Waldorfschüler:innen bekommen deutsche Märchen, europäische Fabeln, germanische, griechische oder römische Sagen erzählt. Die Waldorflehrerin Michaela Kfir hat mir davon berichtet, wie sie mit selbst erfundenen Geschichten Konflikte und Vorkommnisse in ihrer Klasse aufgreift und als versöhnendes, empathiestiftendes Mittel nutzt. Drei Dozierende der Waldorfpädagogik beschreiben, wie sie zukünftigen Waldorflehrkräften das Erzählen nahebringen. Und Heidi Käfer diskutiert in ihrem Artikel die Frage, ob Märchen, in denen die Erzählenden den Protagonist:innen das jeweils andere Geschlecht geben, der heutigen Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit nachkommen.
Viele andere schöne Geschichten aus der weiten Waldorfwelt haben wir in dieser Erziehungskunst für sie gesammelt und niedergeschrieben. Jürgen Beckmerhagen beschreibt, wie Waldorfschüler:innen interstellare Botschaften komponiert haben. Sebastian Schulke hat einen Schulkoch interviewt und spricht mit ihm über Reste-Essen, Pommes und Kürbis-Salbei-Saucen. Anne Brockmann stellt eine wissenschaftliche Untersuchung über Waldorfschulen und das Landesabitur in Hessen vor. Wir portraitieren die Alanus-Hochschule in Alfter bei Bonn. Und last but not least beginnt in diesem Magazin eine neue Serie, geschrieben von Schüler:innen, die sich bundesweit engagieren. Den Anfang macht Maya Ayarza Arisa.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und einen spätsommerlichen September voller schöner Geschichten – selbst erlebt, selbst erfunden oder selbst erzählt bekommen!
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