Ausgabe 09/23

Sehnsuchtsorte mit Höhen und Tiefen

Stefan Grosse

Eine Klassenfahrt ist eine besondere Unterrichtssituation. Sie ist Teil des pädagogischen Gesamtkonzepts, keine Freizeit! Sie bietet die Möglichkeit, ein Jahrgangsmotiv hervorzuheben und ist für die Ausgestaltung der Klassengemeinschaft von großer Bedeutung. Deshalb kommt ihr auch ein hoher pädagogischer Stellenwert zu.
Irdisches für Sechstklässler:innen
Vor der Klassenfahrt steht die Betrachtung des Jahrgangsmotivs der sechsten Klasse: die tatkräftige Auseinandersetzung mit dem Irdischen. Ein Kind dieser Klasse steht mit beiden Beinen auf der Erde. Es setzt sich in Physik mit ihren Kräften auseinander und fragt nach den Ursachen des Gewordenen. In diese Situation passt die Geologie.
Im Unterricht werden die Unterschiede von Erguss- und Sedimentgestein und einigen ihrer Vertreter wie Granit und Kalk erläutert und vorgeführt. Wir besprechen auch, dass die feste Erdkruste auf einer feurigen, formbaren und weichen Schicht schwimmt. Ihre Platten bewegen sich durch gewaltige Kräfte und stoßen zusammen, wodurch sich Gebirge auffalten.
Thema ist auch, dass die Alpen einmal Meeresgrund waren und über Millionen von Jahren in die Höhe gepresst wurden. So gelangte Ablagerungsgestein vom Meeresgrund zu den höchsten Bergspitzen. Dann kam die Erosion als geografischer Gestalter ins Spiel. Die verschwundenen Gletscher schliffen vor Urzeiten Trogtäler aus; mäandernde Flüsse wuschen V-Täler in die Erde – und oft findet man beides zusammen.
Sicher auf Granitriesen
Durch den Unterricht gut vorbereitet, fuhren wir nach Schwanden im Kanton Glarus in der Schweiz und wanderten auf die Mettmenalp. Während des 1.200 Meter messenden Aufstiegs konnten wir die besprochenen Vegetationsstufen in ihren Veränderungen erkennen. Weitere 200 Meter oberhalb befand sich ein Klettergarten mit 15 bis 20 Meter hohen Granitfindlingen. Hier ist Klettern in allen Schwierigkeitsstufen möglich. Wir kletterten Toprope gesichert. Das Seil wird dabei von unten durch den höchsten Punkt und wieder zurück auf den Boden geführt. Beim Klettern kann man höchstens die Zentimeter fallen, die das Seil unter Last nachgibt, wenn die sichernde Person nicht schläft. Es gibt also immer ein Paar, das aufeinander angewiesen ist. Viel passieren kann auch bei Unachtsamkeit nicht: Die Kletternde fällt ein paar Zentimeter mehr, die Person am Boden sichert mit dem eigenen Körpergewicht und wird dann ein bisschen gezogen. Spätestens dann ist sie wieder voll bei ihrer Aufgabe.
Schwere und Angst überwinden
Fragen, die Lehrer:innen spannend finden, etwa: «Wie kommen die riesigen Findlinge auf die Almwiese?» oder «Fühlst du einen Unterschied zwischen Kalk und Granit?», stellt man jetzt besser nicht. Denn nun geht es darum, Angst zu überwinden, die Körperschwere zu erleben, größere und kleinere Hebel der Gliedmaßen geschickt einzusetzen und mit Füßen und Händen mögliche Tritte und Halte zu ertasten, um vorsichtig den nächsten Schritt zu machen.
Oben folgt die zweite Mutprobe: Abseilen! Man muss sich rückwärts mit ausgestreckten Beinen ins Seil fallen lassen. Wer sichert,  lässt gefühlvoll Seil nach, damit der Abseilende nach unten pendeln kann, während er sich mit den Beinen vom Fels abstößt. Die leuchtenden Augen und den Stolz in den Gesichtern der Kinder zu sehen, wenn sie Schwere und Angst durch Kraft und Geschicklichkeit überwunden haben, ist wunderschön. Ich bin mir sicher, dass in dem so verursachten Erstarken des Selbstwertgefühls und der Selbstsicherheit eine der erfolgreichsten Suchtpräventionsmaßnahmen liegt, die man anbieten kann.
Entdeckergeist
Unsere Klassen sind in der Regel zu groß, um mit allen Kindern gleichzeitig zu klettern, deshalb teilt man sich halbtageweise auf. Eine Hälfte klettert, die andere macht kleinere Bergwanderungen. Dabei bietet sich die Möglichkeit, die geologischen Signaturen und geografischen Gestaltungen, die man im Klassenzimmer besprochen hat, in natura zu entdecken. «Erkennt ihr den Wellenlauf einer Faltung an der großen Felswand dort drüben?»; «Entdeckt ihr ein Trogtal?»; «Gibt es noch eine erkennbare Endmoräne oder einen Gletscher-Endsee?» Und dann natürlich: «Wie kommen Granitfindlinge in die nördlichen Kalkalpen?»
Mutprobe Abseilen
In der Nähe der Unterkunft wartet der Garichti-Stausee mit einer besonderen Mutprobe: Abseilen an der rund 40 Meter hohen Staumauer. Hier gibt es niemanden, der sichert. Man lässt sich mit Sicherungsautomaten selber am Seil herunter. Gut, wenn die Lehrkraft vorangeht und Mut macht – auch, wenn sie beim Übersteigen des Staudamm-Geländers feuchte Hände und einen trockenen Mund hat. Übrigens müssen Lehrer:innen auch auf den Toprope-Routen am Fels mindestens einmal klettern und sich von den Schüler:innen sichern lassen, damit sie den großen Spaß haben, dass sie sie beim Abseilen auf halber Höhe in der Wand verhungern lassen.
Siebte Klasse? An die Loire!
Die sechste Klasse wird nach geleistetem Tagewerk gut bekocht. Sie freut sich abends auf ihr Bett und ist gut vor Schnee und Regen geschützt. Für die siebte Klasse steht anderes im Vordergrund: das Motiv des Entdeckens. Für mich am passendsten ist hierfür eine Fahrradtour entlang der Loire, von Orleans bis an die Mündung am Atlantik bei Saint-Nazaire. Gleich fünfmal habe ich diese Fahrt mit meinen Klassen unternommen, und sie war immer ein großer Erfolg.
Nach der Vorbereitung im Klassenzimmer  konnte das geführte Erleben, Reflektieren und Erkennen während der Fahrt gelingen. Hier lag der Schwerpunkt auf der Geschichte, nicht in der Naturkunde. Das naturbelassene Flussbett der Loire führt durch eine einzigartige Kulturlandschaft sowohl, was Agrikultur, als auch, was Städtebau und Kunst angeht.
Los geht es in Orléans, wo Jeanne d'Arc 1429 den Wendepunkt
für Frankreich im Hundertjährigen Krieg brachte. Weiter führt
die Strecke über Chambord, dem Jagdschloss Franz I., nach Blois, Amboise und Tours, der Stadt des Heiligen Martin von Tours. Es folgt die Burg Chinon, auf der Jeanne d'Arc König Karl VII begegnete. Weiter geht es zur Abtei von Fontevraud, in der Richard Löwenherz begraben liegt, es folgen Saumure, Angers, Nantes und Saint-Nazaire.
Kultur satt
Man kann sich vor Kultur und  Geschichte in der Region kaum retten und muss sich stark beschränken. Die Schüler:innen waren durch Referate, die sie vor der Reise gehalten hatten, gut vorbereitet. Vor Ort kamen sie nochmal auf ihr Thema zurück. Die Tagesetappen betrugen im Mittel 50 Kilometer. Es gab überall auf der Strecke schöne Campingplätze, sodass man sich die Gesamtlänge von 500 Kilometern gut einteilen konnte.
Auf dem Gepäckträger hatten wir alles dabei: Kochutensilien, Zelte, Schlafsack und Isomatte. Verpflegung
wurde täglich von Begleiter:innen in einem Begleitfahrzeug eingekauft. Dieses war für absolute Notfälle vorgesehen, nicht als Taxi.
In kleinen Orten haben wir morgens 50 (!) Baguettes als Frühstück und Mittagessen bestellt und Boulangerien leergekauft. Abends gab es warmes Essen vom Campingkocher. Sehnsuchtszielort war das Meer, der Atlantik. Dort verbrachten wir zwei Tage und fuhren dann über Paris nach Hause. Den Tag in Paris haben die Klassen unterschiedlich angenommen. Für manche war er ein Highlight, andere waren ein bisschen überfordert.
Im Reigen der Klassenfahrten war diese die erfolgs- und ereignisreichste, die den Schüler:innen am stärksten in Erinnerung blieb. Unnötig zu erwähnen, dass diese Fahrt die Klassengemeinschaft auf ganz besondere Weise gefördert und geformt hat.
Natürlich müssen alle diese Fahrten vorher von Klassenlehrer:innen abgefahren, abgewandert, ausprobiert werden. Man sollte sie selbst entwickeln und leiten. Für die Stellung der Klassenlehrer:innen bedeutet es meines Erachtens einen Authentizitätsverlust, wenn man solche Ereignisse an Erlebnispädagogik-Unternehmen outsourced.
Achtklässler:innen auf See
Die Pubertätssituation der achten Klasse findet eine exzellente pädagogische Antwort im Segeln. Die mangelnde Sicherheit des schwankenden Untergrundes, die unsichtbare und unberechenbare Kraft des Windes – und dann das Erlebnis: «Alles wird stabil, wenn ich den Wind – die unsichtbare Kraft – richtig einfange und Fahrt mache.» Und weiter die Erfahrung: «Ich darf nie unaufmerksam sein, ich muss den Kräften immer fein nachspüren. Und wenn ich mich gut mit meinem Vorschoter abstimme, dann läuft das Boot richtig gut.»
Die Segelfläche muss den Windkräften stets angepasst werden. Dem hohen, aufrechten, starken Mast steht das unsichtbare, schwere Unterwasserschiff entgegen. Und wenn es den Kiel oder das Schwert mit seinem Gewicht nicht gäbe, wäre das Schiff ein nicht mehr steuerbares Spiel der Winde. So müssen die Segler:innen den oberen, sichtbaren Teil des Bootes und den unteren, unsichtbaren immer im Gleichgewicht halten.
Sehnsuchtsorte erreichen
So bleiben drei Erfahrungen. Aus der sechsten Klasse: «Ich kann Angst und Schwere durch Mut und Kraft überwinden.» Aus der siebten: «Ich setze mir ein Ziel, einen Sehnsuchtsort, und ich kann ihn erreichen, indem ich ihm beständig folge.» Und aus der achten: «Ich kann die starken, unsichtbaren und unberechenbaren Kräfte der Natur beherrschen und in ein Gleichgewicht zueinander bringen.» Diese Erlebnisse geben Kraft und Selbstvertrauen und lassen Kinder und Jugendliche eine tiefe Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns erfahren. So entsteht Resilienz.

 

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