Ausgabe 07-08/24

Selbstbildung anhand der Welt

Angelika Lonnemann

Während aller Praktika können die Schüler:innen mit den Händen greifen, dann mit dem Herzen fühlen, und schließlich mit dem Kopf verstehen, was sie umgibt und wie die Welt zusammenhängt. In der Waldorfpädagogik wird keinem Bereich der Vorrang – die kognitiven, die handwerklichen und die künstlerischen Fächer stehen gleichberechtigt nebeneinander. Die Praktika beginnen mit handwerklichen Berufsbildern. In der neunten Klasse machen die Schüler:innen idealerweise ein Praktikum in der Landwirtschaft, in der Forstwirtschaft oder in einem Kleinbetrieb, womöglich einem Familienbetrieb. Sie sollen Arbeitsabläufe kennenlernen, sich daran beteiligen und sie verstehen. Wichtig ist dabei, dass sie dabei ursprüngliche Erfahrungen machen – und davon nicht nur lesen oder hören. In einer Lebensphase, in der manche Jugendliche seelisch durch die Pubertät gerüttelt werden, kann das Landwirtschaftspraktikum, bei dem sie mit festem Boden unter den Füßen ins Tun kommen, erden.

In der zehnten Klasse schließt sich dann ein Praktikum in einem komplexeren Betrieb an und/oder das Feldmesspraktikum, eins von etlichen Alleinstellungsmerkmalen der Waldorfpädagogik. In einem Industriepraktikum lassen sich die hoch komplexen Zusammenhänge von Arbeitsorganisation kennenlernen. In dieser Phase brauchen die Schüler:innen Genauigkeit, Geduld und beim Feldmesspraktikum auch Teamfähigkeit, um zu guten Ergebnissen zu kommen. Zehntklässler:innen, denen die Welt widersprüchlich und ohne Zusammenhang erscheinen kann, können so erfahren, dass sie selbst Orientierung schaffen können.

In der elften Klasse, wenn im Deutschunterricht Moral und das Karitative im Menschenbild besprochen werden, (Erlösung durch Mitgefühl, Parzivals Frage «Oheim, was fehlt dir?»), können die Schüler:innen in der dreiwöchigen Begegnung selbst Menschlichkeit und ihre eigene Sozialfähigkeit erfahren lernen.

Ziel der Waldorfpädagogik ist es, dass sich die Kinder mit dem konkreten Leben verbinden. Daher hat das Erfahrungslernen hier einen großen Stellenwert. Im Praktikum werden sie mit Situationen konfrontiert, die sie sonst nicht erleben würden. Sie sollen zu der Erkenntnis gebracht werden «es kommt auf mich an, dass hier etwas geschieht». Deswegen dauern die Praktika im Bestfall auch drei Wochen, denn kaum jemandem gelingt es, drei Wochen lang nur zuzuschauen – der Druck, ins Tun zu kommen und selbst beizutragen ist damit gewährleistet.

Wichtig ist nicht nur, dass die Schüler:innen die Abläufe während des Praktikums verstehen, sie sollen auch über das Praktikum urteilen können. Je älter sie werden, desto differenzierter kann die Reflexion sein, mit der sie auf ihre Erfahrungen zurückschauen. Alle Praktika dienen auch der Orientierung – und helfen, die Fragen zu beantworten, wie Schüler:innen ihren Platz in der Welt finden können und wie sie ihre Zukunft aktiv mitgestalten können. In allen Schuljahren der Oberstufe ab der neunten Klasse öffnet sich also die Klassenzimmertür und der Unterricht wird welthaltig.

Die Praktika können Lehrkräfte auch zu Unterrichtseinheiten anregen. Nach dem Landwirtschaftspraktikum kann etwa die Ernährungssituation in der Welt oder die nachhaltige Nutzung des Bodens und der Pflanzen besprochen werden. Im Idealfall findet im Anschluss an das Praktikum nicht nur der Berichtabend für die Eltern statt, sondern auch eine inhaltliche Nachbereitung mit der ganzen Klasse.

Alle Praktika sind wertvolle Erfahrungen, die in einem Abschlussportfolio der Schüler:innen festgehalten werden können. Zukünftige Arbeitgeber:innen können auf diese Weise die Persönlichkeit der Schüler:innen besser kennenlernen und einschätzen als lediglich durch Zeugnisnoten.

Übrigens: An einigen Waldorfschulen gibt es für die Oberstufe pro Schuljahr sogar zwei Praktika á drei Wochen. Die Praktika liegen für alle Klassen in den gleichen drei Wochen, damit ist gewährleistet, dass es genügend Lehrkräfte gibt, die die Praktikant:innen, die Eltern und die Betriebe betreuen. In der neunten Klasse sind es Landwirtschaft/Forst und ein kleinerer Betrieb, in der zehnten ein mittelgroßer Betrieb und das Feldmesspraktikum, in der elften Klasse ein Ökologie- und ein Sozialpraktikum. Und in der zwölften Klasse finden während der zwei mal drei Wochen die Kunstfahrt und das Proben für das Klassenspiel statt.

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