Wann im Leben erwirbt ein junger Mensch die Fähigkeit, eine Herde Kühe zu führen – und das ganz ohne Stock und Worte? Klare Antwort: im Landwirtschaftspraktikum der Waldorfschule. Drei Wochen eintauchen in die Landwirtschaft, an der Erde und mit den Tieren arbeiten, sich in den Dienst einer Sache stellen, die ganz unabhängig ist von dem, was man selbst will: Das ist gerade in der neunten Klasse eine sehr wertvolle Erfahrung, findet Renate Fendt. Sie ist Gartenbaulehrerin an der Freien Waldorfschule Augsburg und betreut seit vielen Jahren Schüler:innen im Landwirtschaftspraktikum.
17 Jahre lang organisierte Fendt Landwirtschaftspraktika für die komplette Klasse an einem Ort. Das hatte Vor- und Nachteile. Sehr wertvoll sei es, miteinander zu arbeiten, etwas gemeinsam zu beackern und am Ball zu bleiben. «Das ist etwas ganz anderes, als zusammen in die Schule zu gehen oder die Freizeit miteinander zu verbringen», sagt sie. Es sei aber nicht immer leicht gewesen, einen geeigneten Hof für eine ganze Klasse zu finden. Seit elf Jahren gehen die Jugendlichen nun allein oder in Zweiergruppen auf die Höfe. Zum letzten Jahrgang der Augsburger Waldorfschule, der noch als ganze Klassengemeinschaft ins Landwirtschaftspraktikum ging, gehört die heute 27-jährige Luise. Viele Details erinnert sie nicht mehr. Das sei zu lange her. Aber dass es eine wertvolle Zeit war, das hat sie noch sicher im Gefühl. Und zwar vor allem wegen der gemeinsamen Erlebnisse mit ihren Mitschüler:innen. «Ich weiß noch, dass wir Mädchen in einem extra Haus untergebracht waren, in einem Nebengebäude. Die Jungs haben über der Scheune geschlafen. Eines Abends kamen sie auf die Idee, dort drinnen Fußball zu spielen. Dabei haben sie glatt ein Loch in eine Wand geschossen», erzählt Luise. Tagsüber hätten sie vormittags und nachmittags jeweils drei Stunden gearbeitet. «Wir waren in Kleingruppen von sechs bis sieben Leuten eingeteilt. Jede Gruppe hatte ihren Aufgabenbereich, die Bereiche haben aber rotiert, sodass am Ende alle alles gemacht hatten», berichtet die ehemalige Waldorfschülerin weiter. Zusammen mit ihren Klassenkamerad:innen hätte sie Karotten gezogen, Lauch geputzt, Äcker umgegraben, Samen eingesät und für die Gemeinschaft gekocht. Eine besondere Aufgabe sei das Hüten der Kühe gewesen. Darauf hätte die Kleingruppe sich im Vorfeld des Praktikums vorbereiten müssen und sei deshalb auch konstant bei dieser Arbeit geblieben. Luise erinnert sich noch daran, dass parallel zu ihrer Klasse noch zwei Jungen einer anderen Waldorfschule für ein Praktikum auf dem Hof waren. «Deren Tag war straffer organisiert. Sie haben härter und länger gearbeitet, hatten weniger Ausgleich und taten mir immer irgendwie leid. Aber wir haben sie schnell in unsere Klassengemeinschaft integriert und dann war’s okay. Darüber waren sie ganz froh, glaube ich. Denn Fußball zu zweit is‘ natürlich nicht!» Hätte Luise die Wahl, würde sie sich immer wieder für Praktika mit der ganzen Klasse entscheiden. Ihre Schwester Klara ist sechs Jahre jünger und gehört damit zu der Generation von Waldorfschüler:innen in Augsburg, die allein oder zu zweit ins Praktikum gingen und gehen. Ob ganz allein oder zu zweit – das war Klara freigestellt. Sie durfte selbst entscheiden, wählte die erste Variante und war froh damit. «Ich hatte das Gefühl, dass es eine wichtige Erfahrung für mich sein könnte, drei Wochen allein an einen fremden Ort zu gehen und ich habe es nicht bereut», sagt die heute 21-Jährige. Sie hat ihr Landwirtschaftspraktikum in einer Bio-Schäferei im Schweizer Safiental gemacht und hatte «großes Glück» mit der Bauernfamilie. «Dadurch, dass ich allein war, hat die Familie mich stark in ihr Leben integriert. Wir sind in einen richtig engen Kontakt gekommen. Das wäre mit der Klasse sicher anders gewesen», vermutet Klara. Sie hat nicht nur Weidezäune aufgebaut und Lämmer gehütet, sondern sich auch um das Kleinkind des Bauernpaares gekümmert. Das sei zuweilen auch herausfordernd gewesen. Und auch als die Schwester der Bäuerin geheiratet hat, war Klara mit dabei. «Die Bäuerin war im ersten Beruf Floristin und zusammen haben wir alle Blumengestecke für die Feier hergestellt. Das hat Spaß gemacht und ich habe noch Einblicke in einen ganz anderen Beruf bekommen», erzählt sie.
Landwirtschaftspraktikum: Eintauchen ins Hofleben
So wie Luise und Klara leben und arbeiten die Jugendlichen auch heute noch drei Wochen lang auf einem Demeter-, Bioland-, Naturland oder BioSuisse-Hof. Manchmal sind auch kleine konventionelle Betriebe dabei. Viele sind das erste Mal für eine längere Zeit alleine von zuhause weg, was bisweilen auch für Eltern nicht leicht zu verkraften ist. «Es kommt schon vor, dass einzelne Mütter oder Väter gerne täglich bei ihren Sprösslingen anrufen, um sich nach deren Wohl zu erkundigen», berichtet Fendt. Ihre Bitte an die Eltern lautet: Zuversicht und Interesse ja, Klammern nein. Denn das Landwirtschaftspraktikum dient in erster Linie der Persönlichkeitsentwicklung. Schüler:innen erleben hier ganz elementare Tätigkeiten, setzen sich auf eine andere Art mit der belebten Natur, der Produktion von Lebensmitteln und nachhaltigen Kreisläufen auseinander und lernen, sich in neuen familiären Gepflogenheiten zurechtzufinden. Angesichts des hohen Arbeitspensums in der Landwirtschaft empfinden viele Schüler:innen im Vorfeld aber auch Ängste. Werden sie da mithalten können? Fendt ist dankbar für alle Betriebe, die die für sie fremden jungen Menschen für die Dauer des Praktikums in ihre Familien aufnehmen. Denn zwar seien die Jugendlichen oftmals eine Unterstützung für den Hof, manchmal sei diese Zeit aber auch hauptsächlich ein «Geschenk an den Jugendlichen», sagt sie.
Betriebspraktikum: Was will ich werden?
Im Laufe der zehnten Klasse wird für viele die Frage wichtig «Wo kann es für mich beruflich hingehen?» Frank Strodel, Orchesterleiter an der FWS Augsburg und Leiter der Oberstufenkonferenz, begleitete die Jugendlichen als Klassenbetreuer in dieser Phase. Die Schüler:innen suchen sich selbstständig einen Betrieb aus, in dessen Alltag sie für zwei oder drei Wochen hineinschnuppern wollen. Damit verbunden, durchlaufen sie das ganze Prozedere der Bewerbung und Vorstellung bei einem potenziellen Arbeitgeber. «Anders als beim Landwirtschaftspraktikum müssen die Schüler:innen bei Auswahl und Bewerbung hier selbst aktiv werden», so Strodel.
Das Hineinspüren in den Berufsalltag eröffnet zudem eine neue Sicht auf eine Frage, die nach Fendts Beobachtung in diesem Alter häufig auftaucht. Nämlich: Will ich überhaupt noch weiter in die Schule gehen? Das Berufspraktikum kann dazu beitragen, durch eine stimmige Tätigkeit ein klareres Ziel vor Augen zu sehen. Idealisierte Berufsbilder werden in dieser Zeit entzaubert. Bisweilen kommt es auch vor, dass einzelne Jugendliche Wunschberufe erleben, für die sie bestimmte Abschlüsse brauchen oder auch nicht brauchen. So kann es vorkommen, dass sie mit neuem Antrieb in die Schule zurückkommen oder aber die Schule früher als ursprünglich gedacht verlassen.
Highlights der Schulzeit
Die Praktika nehmen in der Waldorfpädagogik einen großen Raum ein. «Schüler:innen werden dadurch ganz anders ins Leben gestellt», wertschätzt Fendt diese Vielzahl an praktischen Einheiten vor allem während der Oberstufenzeit. Welch hohen Stellenwert die Praktika bei den Schüler:innen selbst haben, zeigt sich nach ihrer Erfahrung meist bei der Zwölftklassverabschiedung, wenn die Schüler:innen selbst auf ihre Schulzeit zurückschauen. «Die Praktika werden gern als die Highlights der Schulzeit bezeichnet», so die Pädagogin. Hier erlebten die Schüler:innen Selbstwirksamkeit. Voraussetzung hierfür seien aber auch ein echtes Interesse und die deutliche Anteilnahme der Eltern an allen praktischen Tätigkeiten ihrer Kinder. Doch Praktika wirken nicht nur ins Innere der Schüler:innen. So stellt Strodel immer wieder fest: «Gerade das Betriebspraktikum bietet waldorffernen Arbeitgeber:innen die Chance, eventuell bestehende Vorurteile gegenüber Waldorfschulen abzubauen und wertvolle Partner:innen zu werden.»
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