Als ich Binisha zum ersten Mal sehe, sitzt sie auf dem Schoß ihrer Betreuerin und lacht. Ein fröhliches Kind mit lebhaften Augen. Doch eine feine Narbe am Hals, die unter dem Kragen ihrer Schuluniform hervorlugt, erzählt eine andere Geschichte: Binisha wurde als Kleinkind an Bettelbanden «vermietet», um die Sucht ihres alkoholabhängigen Vaters zu finanzieren.
Heute ist sie vier Jahre alt und lebt im Shanti Sewa Griha in Kathmandu – einer einzigartigen Einrichtung mit Schule, Internatsplätzen, medizinischer Versorgung, Werkstätten, Musikschule und Klinikbetrieb. Shanti wurde 1992 gegründet und bietet Schutz, Bildung und Gemeinschaft für solche Kinder und Erwachsene, die sonst in Nepal durchs Raster fallen: Leprakranke, Waisen, Menschen der sogenannten niederen Kaste Dalits, Menschen mit Behinderung – oder wie im Fall von Binisha: Kinder, die niemand wollte.
Ein Anfang inmitten der Ausgrenzung
Shanti wurde von Marianne Großpietsch gegründet, damals Auslandskorrespondentin in Japan. In den 1970er-Jahren reiste sie erstmals nach Nepal. Eine zufällige Begegnung mit einer leprakranken Familie im Dorf Khokana führte zur Patenschaft für ein Kind. Als dieses Kind aufgrund seiner Herkunft später aus der Schule ausgeschlossen wurde, nahm sie es kurzerhand mit nach Deutschland. Dort wurde es der erste nepalesische Waldorfschüler.
Diese Erfahrung in Nepal ließ Grosspietsch jedoch nicht mehr los. Sie kehrte zurück und gründete mit relativ wenig von ihrem Geld ein Zentrum, das Menschen ausgrenzungsfrei aufnimmt – getragen von den Grundprinzipien der Waldorfpädagogik.
Heute besuchen rund 140 Kinder die Schule. Sie leben entweder in den Wohngruppen des Hauses oder kommen mit dem Schulbus aus umliegenden Stadtteilen oder Slums. Viele von ihnen stammen aus Familien, die von Lepra betroffen sind – einer Krankheit, die in Nepal aufgrund schlechter hygienischer Bedingungen und mangelnder medizinischer Versorgung noch immer vorkommt. Lepra verursacht Nervenschädigungen, die oft zu Entstellungen führen. Die gesellschaftliche Stigmatisierung ist groß – auch für Kinder, deren Eltern erkrankt sind.
Ein Großteil der Schüler:innen gehört zur sogenannten Dalit-Kaste. Dalit bedeutet so viel wie unterdrückt oder gebrochen – es ist die Selbstbezeichnung von Menschen, die im traditionellen hinduistischen Kastensystem ganz unten stehen und als Unberührbare gelten. Obwohl die Diskriminierung gesetzlich verboten ist, sind viele Dalits auch heute noch vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Sie arbeiten häufig in schlecht bezahlten, als unrein geltenden Berufen, leben in abgetrennten Siedlungen und haben kaum Zugang zu Bildung oder medizinischer Versorgung.
Andere Kinder sind Halb- oder Vollwaisen, wurden misshandelt, vernachlässigt oder sind mit Behinderungen aufgewachsen. Besonders in solchen Fällen lehnen staatliche Schulen die Aufnahme häufig ab – selbst in der Hauptstadt Kathmandu. Für Kinder aus diesen Verhältnissen ist Shanti oft die erste und einzige Chance, zu lernen – und als Mensch mit Würde gesehen zu werden. Bei Shanti ist Vielfalt Alltag. Kinder mit und ohne Behinderung leben und lernen gemeinsam. In Binishas Klasse sitzt ein Junge mit Zerebralparese. Seine Muskeln sind stark verkrampft, der Bewegungsradius seiner Arme eingeschränkt. Beim Malen hilft ihm sein Sitznachbar: Er führt seine Hand vorsichtig über das Blatt. Kein Mitleid. Kein Staunen. Einfach nur selbstverständlich.
Gelebte Inklusion
«Wir sprechen nicht über Herkunft, sondern über Zukunft», sagt Apsara Karki, Geschäftsführerin von Shanti. In der Einrichtung leben aktuell dauerhaft 75 Kinder. Sie wachsen in betreuten Wohngruppen auf, geführt von erfahrenem Pflegepersonal. Die übrigen Kinder wohnen bei ihren Familien, meist in ärmlichen Verhältnissen – viele stammen aus Slums, in denen sich mehrere Generationen ein einziges Zimmer teilen.
An Feiertagen, wenn ein Teil des Personals Urlaub nimmt, übernehmen die älteren Kinder Verantwortung: Sie bereiten das Frühstück vor, helfen beim Waschen, kümmern sich um die Jüngeren. Sie wachsen mit dem Gefühl auf, gebraucht zu werden.
Bis zur sechsten Klasse arbeiten die Kinder ohne Schulbücher. Stattdessen gestalten sie ihre Hefte selbst – mit Zeichnungen, Aufsätzen, Beobachtungen. Der Unterricht erfolgt in Epochen: Drei Wochen lang widmen sich die Klassen intensiv einem Thema – Biologie, Mathematik, Literatur.
Der Zugang folgt der Waldorfpädagogik: Zuerst beobachten, dann beschreiben – mit eigenen Worten. Erst später wird theoretisches Wissen eingeführt. Ab Klasse sieben werden zusätzlich staatliche Lehrpläne berücksichtigt, damit die Schüler:innen offizielle Abschlüsse erlangen können. Der Tagesablauf ist rhythmisch gegliedert. Auf den Hauptunterricht folgen handwerkliche, musische und sportliche Aktivitäten: Nähen, Töpfern, Holzarbeiten, Musik, Gartenarbeit. Besonders begabte Kinder werden individuell gefördert – einige tanzen inzwischen auf Bühnen, andere trainieren in nationalen Sportmannschaften.
Eine Schule, die heilt
Viele Kinder kommen mit tiefen seelischen Wunden. Die Schule arbeitet eng mit den Wohngruppen zusammen. Musiktherapie, Rhythmik, Märchenstunden – all das hilft, Ängste abzubauen. Ein Mädchen, dessen Mutter bei der Geburt verblutete, sprach monatelang kein Wort. Erst durch gemeinsames Singen fasste sie Vertrauen. Heute hilft sie im Kindergarten mit. Ihr Wunsch: Erzieherin werden.
Rund 500 Familien erhalten regelmäßig Lebensmittelpakete, medizinische Versorgung, Bildungsangebote und rechtliche Beratung. Finanziert wird das alles allein durch Spenden – organisiert von Marianne Grosspietsch in Deutschland. Täglich telefoniert sie mit dem Team in Kathmandu, verfasst Berichte, plant neue Projekte.
Der nepalesische Staat unterstützt die Arbeit nicht. Für Genehmigungen werden oft Gebühren verlangt. Jährlich benötigt Shanti rund eine Million Euro. Damit werden Lehrkräfte, Pflegepersonal, Mahlzeiten, Schulmaterial, medizinische Camps und sogar Uniformen finanziert.
Medizinische Hilfe auf vier Rädern
Ein besonderer Teil von Shantis Arbeit sind die mobilen Gesundheitscamps. Mehrmals pro Monat fährt ein Team aus Ärzt:innen, Zahnärzt:innen, Gynäkolog:innen und Physiotherapeut:innen in abgelegene Regionen – etwa in eine Ziegelei, wo hunderte Familien unter prekären Bedingungen leben und arbeiten. Dort behandeln sie täglich bis zu 600 Menschen: kostenlos, professionell und respektvoll.
Die Unterstützung endet nicht mit dem Schulabschluss. Kinder, die studieren möchten, werden weiterhin gefördert. Derzeit absolvieren über 30 junge Erwachsene eine Ausbildung in Medizin, Ingenieurwesen, Pharmazie oder Sozialarbeit. Viele kehren später zurück – als Lehrer:innen, Krankenpfleger:innen oder Ausbilder:innen.
«Wir achten darauf, dass sich die Kinder nicht über ihre Armut definieren», sagt Apsara. «Sie sollen sich als Menschen mit Potenzial erleben – nicht als Problemfälle.»
Binisha tanzt
Als ich Binisha zum zweiten Mal sehe, tanzt sie. Eine Musiklehrerin schlägt einen weichen Takt auf der Trommel. Binisha hebt die Arme, dreht sich, lacht. Alles ist leicht.
Ich denke an Bijendra Kunwar, Projektkoordinator bei Shanti, der mir beim ersten Besuch sagte: «Früher war sie eine Ware. Heute ist sie ein Kind.» Vielleicht ist genau das der größte Erfolg dieser Schule: dass Kinder wie Binisha wieder Kind sein dürfen. Und dass sie lernen, ihren Platz in der Welt selbst zu gestalten.
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