Als Waldorfpädagog:innen befinden wir uns in einer ständigen Spannung. Wir müssen mit dem Anfang verbunden sein und uns und die Waldorfpädagogik stets neu erfinden. 2019 haben wir 100 Jahre Waldorfpädagogik gefeiert. Wir können auch heute noch stolz auf die Entwicklung und die nunmehr 256 Waldorfschulen sein. Zugleich scheinen die waldorf100-Feierlichkeiten heute, nach erst sechs Jahren, weit entfernt. Die seither vergangene Zeit kommt wie ein Epochenbruch daher: die gesellschaftlichen Entwicklungen durch Corona, die Kriege in der Ukraine und in Nahost, die Wahlergebnisse in Europa, in Deutschland, in den USA. Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass die Demokratie mit ihren Werten als solche heute so in Frage stehen könnte? Ein Epochenbruch ist es auch deshalb, weil elementare Fragen heute neu und anders gestellt werden. Fragen nach Sicherheit, nach Sinn rücken in den Vordergrund – das wurde zumindest als eine psychologische Erklärung für die Wahlergebnisse in den östlichen Bundesländern dargeboten. Es scheint: das, was früher getragen hat, trägt nicht mehr.
Die Daseinsberechtigung jeder Schule, insbesondere einer Waldorfschule, ist 2025 – so kommt es mir vor – nur dann erfüllt, wenn die in ihr tätigen Menschen es schaffen, in dieser «Anfrage» heute, in diesem Ansturm heute etwas in die Welt zu setzen, was allen Beteiligten in der Ausrichtung auf Sinn und Sicherheit Wesentliches gibt. Und Waldorfschulen leisten hier meines Erachtens viel.
Sinn finden: Sinn finde ich immer nur in Gemeinschaft. Es ist die Stärke einer Waldorfschule, dass hier Schulgemeinschaft wirklich gelebt wird, dass man sich verbunden fühlt und – wenn es gut geht – gemeinschaftlich durch Konflikte, die unweigerlich in jeder Gemeinschaft entstehen, miteinander geht. Sinn ist zugleich immer etwas, was nicht einfach vorgefunden werden kann. Sinn kann ich mir nur selbst geben, indem ich mich selbst in meinen Fähigkeiten entdecke, Fähigkeiten, die die Welt braucht. Diese Fähigkeiten für heute – so zumindest die Auffassung von vielen Expert:innen – lassen sich mit den vier großen K umreißen: Kollaboration – Kreativität – Kommunikation – kritisches Denken. Und wer Zwölftklässler:innen einer Waldorfschule, etwa bei den Jahresarbeiten oder beim Theaterprojekt, erlebt, kann bemerken, was Waldorfschüler:innen heute hier mitbringen und in ihrer Schulzeit erlernt und erfahren haben.
Sicherheit erlangen: Seit den 1950er Jahren leben wir in Deutschland in einer Sicherheit, die es vielleicht vorher so nie gegeben hat – kein Krieg und dazu ein enormer wirtschaftlicher Aufstieg. Es galt die Gleichung Wandel gleich Fortschritt, gleich wirtschaftlicher Aufstieg für alle, gleich Wohlstand für alle.
Diese Zukunftserwartungen tragen heute nicht mehr. Es ist eine Zeit der Unsicherheit geworden, und wir können nicht erwarten, dass das Alte so einfach wiederkommt. Es wäre vermessen, hier eine simple Antwort auf eine so komplizierte historische und politische Gemengelage zu bieten. Stattdessen mögen Worte von Steiner stehen, die für mich das ausdrücken, was jetzt Not tut. Übrigens hat nicht er selbst dieses Ergebenheitsgebet niedergeschrieben, vielmehr wurde es von anderen aus drei seiner Vorträge zusammengestellt.
«Was auch kommt, was mir auch die nächste Stunde, der nächste Tag bringen mag: Ich kann es zunächst, wenn es mir ganz unbekannt ist, durch keine Furcht ändern. Ich erwarte es mit vollkommenster innerer Seelenruhe […] Durch Angst und Furcht wird unsere Entwicklung gehemmt […] Es gehört zu dem, was wir in dieser Zeit lernen müssen: Aus reinem Vertrauen leben, ohne Daseinssicherung, aus dem Vertrauen auf die immer gegenwärtige Hilfe der geistigen Welt.» Wenn ich Sicherheit finden will, brauche ich Mut. Einen Anfang zu erzeugen, kann geschehen, wenn ich einen Sinn sehe, erlebe, schaffe und wenn ich in mir Mut fördere. Stets einen Anfang zu setzen, obliegt jeglicher Organisation, vor allem jeder Schule. Tut sie es nicht, dann überlebt sie sich selbst. Denn wir haben es mit jungen Menschen zu tun, mit dem Phänomen, dass jeder Mensch – wie es die Philosophin Hannah Arendt formuliert hat – immer ein Anfang ist. Der Mensch ist gewissermaßen das sich in Anfang setzende Wesen. Das zu respektieren und zu fördern, ist Aufgabe jeder Schule.
Dieser Text geht auf eine Rede zurück, die der Autor in Erlangen anlässlich des 40-jährigen Schuljubiläums gehalten hat.
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.