Ausgabe 03/25

Sichtbare Beziehungen in Raum und Zeit

Anne Brockmann


«Das mag komisch klingen», mutmaßt Ulrike Langescheid, «aber um die Eurythmie selbst geht es im Eurythmieunterricht nicht. Kein bisschen.» Dabei gibt sie seit mehr als 30 Jahren Eurythmiestunden für alle Altersklassen – angefangen bei Kindergartenkindern über Schulanfänger:innen und Pubertierende bis hin zu Abiturient:innen. Und auch mit einer Laiengruppe aus Erwachsenen praktiziert sie. Darüber hinaus ist Langescheid seit 2007 Professorin für Eurythmiepädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter. Die Eurythmie, so sagt sie, sei aber immer nur ein Werkzeug für sie, ein pädagogisches Mittel, das der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen dient, und dürfe deshalb nicht selbst im Mittelpunkt stehen. In der Eurythmie gehe es vielmehr darum, sich selbst einzuordnen in Raum und Zeit. Und weil wir beides immer auch mit anderen Menschen teilen, Raum und Zeit, würden dadurch auch die Beziehungen untereinander sichtbar – womöglich befragt und neu geregelt. Letztlich regt die Eurythmie an, innerhalb eines sozialen Gefüges im richtigen Moment an der richtigen Stelle zu sein. Und das immer wieder neu. Denn als Kunst der fließenden Bewegungen ist sie eine flüchtige, eine «Zeitkunst», wie Langescheid es nennt. «Diese Frage nach dem rechten Platz zur rechten Zeit ist eine urmenschliche, die sich durch jede Biografie zieht. Jedes Mal, wenn wir Eurythmie machen, üben wir das.» So ist das Einstudieren einer bestimmten Form mit einer Gruppe vielleicht ein Abbild des ganzen Lebens, das immer wieder unsere ganze Geistesgegenwart braucht.

Annähern Schritt für Schritt


Wie die Schüler:innen an eurythmische Prozesse herangeführt werden und sie während der Schulzeit durchlaufen, ist dabei je nach Alter ganz verschieden. «In der Unterstufe ist Eurythmieunterricht ein gemeinschaftliches Erlebnis, in das die Kinder im Wesentlichen nachahmend eintauchen. Sie schlüpfen spielerisch in die verschiedenen Bewegungsformen hinein und machen daran Erfahrungen mit sich und der Gruppe», erklärt Jakob von Verschuer. Er ist Eurythmielehrer an der Rudolf Steiner Schule in Berlin-Dahlem, absolvierte außerdem eine Ausbildung zum Heileurythmisten und gibt Fortbildungskurse für Kolleg:innen. In der Mittelstufe gewinnt die äußere Form dann zunehmend an Bedeutung. Die Schüler:innen sind gefragt, sich selbst zu ergreifen und so strukturiert zu verhalten, dass sie sich im Zusammenspiel mit anderen angemessen zu einem Musik- oder Textstück bewegen können. Von Verschuer findet, dass das Wort Umgangsformen vieles von dem beinhaltet, was die Eurythmie für Kinder in der Mittelstufe tun kann: ihnen nämlich vermitteln, wie sie so durch die Welt gehen können, dass es den Menschen und den Phänomenen um sie herum entspricht – ohne sich selbst zu verlieren. Langescheid hat beobachtet, dass dies oft besonders Kindern gelingt, die parallel dazu auch Fußball spielen oder eine andere Mannschafts- oder Gruppensportart betreiben: «Einen Raum, die Menschen darin und die vorherrschende Dynamik und Struktur blitzschnell zu erfassen und die eigene Bewegung danach auszurichten, das ist etwas, das solche Kinder vom Spielfeld kennen. Dort ist der Ball, so steht mein Team und so das andere, also schlage ich diesen Weg ein und so weiter. Wir üben im Eurythmieunterricht, angemessene – der Musik, einem Inhalt, der Gruppe – Strukturen zu bilden, zu lösen und wieder neue Strukturen zu bilden.» Manchmal könnten die Kinder diese Parallele auch selbst sehen und würden dann eine Brücke schlagen vom Fußball zur Eurythmie – und umgekehrt. «In der Oberstufe sind sie dann mit so viel Handwerkszeug ausgestattet, dass sie sich selbst eine Form geben, neu schöpfen und improvisieren können», rundet Eurythmielehrer von Verschuer ab. Die stufenweise Annäherung an die Eurythmie dürfe aber keinesfalls statisch sein, sondern in jede Phase müssten die anderen schon hineinleuchten, betont er. «Der selbstständige Zugang zur Eurythmie muss von Anfang an geübt werden, sonst gelingt es nicht, dass die Schüler:innen einen eigenen Bezug zur Eurythmie herstellen. Dann bleibt Eurythmie immer an die Lehrperson gebunden und wenn zum Beispiel die Schüler:innen in einer Phase berechtigterweise auch mal in Distanz zu mir als Lehrer gehen wollen, dann entsteht zugleich auch eine Distanz zum Fach Eurythmie. Deswegen ist es wichtig, dass sie schon ihren eigenen Zugang zu den Bewegungsformen von innen heraus entwickelt haben.»

Sich zeigen, authentisch sein


Die Formen von innen heraus füllen – das ist wichtig. Denn auch das kann die Eurythmie sein: Ausdrucksmöglichkeit für ein Individuum und dessen Beziehung zur Welt. Langescheid macht das an einem Paradoxon deutlich, das die Pubertät mit sich bringt und das die Eurythmie immer wieder aufzulösen vermag: «Auf der einen Seite empfinden die Schüler:innen in diesen Jahren das große Bedürfnis, gesehen und er-kannt zu werden. Sie brauchen ein Gegenüber, das lesen kann, wer sie wirklich sind. Auf der anderen Seite wollen sie kaum angeschaut werden, sind unsicher und halten Blicke nur schwer aus. Raum- und Koordinationsformen in der Eurythmie können da einen echten Schutzraum bieten. Sie sind nüchtern, sauber, klar – und doch inniglich.» Eine «Kultur des sensiblen Sich-Zeigens» sei es, die so etabliert werden könne, wenn Schüler:innen über die gesamte Schulzeit hinweg Eurythmie machen würden. Und das wiederum sei eine wichtige Basis für das Knüpfen und Halten jedweder Beziehung. «Da nehmen wir uns ja immer mit. Je besser wir uns selbst kennen und je unverfälschter wir uns einbringen, desto menschlicher geht es zu», ist von Verschuer überzeugt. Zentrum und Peripherie sind diesbezüglich die Zauberworte für Kollegin Langescheid. «Ich bin immer das Zentrum. Das muss ich sein. Das ist wichtig. Alle anderen Menschen bilden für mein Zentrum die Peripherie. Mein Zentrum jedoch ist lediglich das Zentrum meiner Welt. Und was mir als Peripherie erscheint, sind lauter andere Zentren», führt sie aus. Von Verschuer plädiert dafür, jüngeren Schüler:innen durchaus zuzugestehen, dass das Aufbauen ihres eigenen Zentrums mit einem Egoismus einhergehen darf. «Ich muss Bedürfnisse und Gefühle erkennen, benennen und mitteilen können, um mit ihnen später besser umgehen zu können. Kindlicher Egoismus ist deshalb eine notwendige Übergangsform», sagt er.

Brüche als Motiv


Deshalb gibt es im Grunde keine Texte und keine Musik, die nicht eurythmisch verarbeitet werden können. Zumindest möchten weder Langescheid noch von Verschuer solch eine Grenze ziehen. «Es kann aber vorkommen, dass mir zu dem, was die Schüler:innen an mich herantragen, partout nichts einfällt. Dann haben wir keine Grundlage und können deshalb nicht arbeiten. Das könnte meinem Kollegen aber ganz anders gehen», sagt Langescheid und erinnert sich an ihre letzte zwölfte Klasse. Die Schüler:innen hätten eine Übung, die sie in der fünften Klasse kennen gelernt haben, derart liebgewonnen, dass sie in allen Folgejahren weiter damit arbeiten wollten. Und schließlich sollte diese Übung auch integraler Bestandteil des Eurythmieabschlusses am Ende ihrer Schulzeit werden. Umsetzen wollten die Schüler:innen das Altbekannte zu aktuellem Techno. «Ich war skeptisch», gibt Langescheid zu, erzählt dann aber, wie es eben jene Brüche waren, die die Choreografie enthielt, die sie mitgenommen haben. «Text und Musik gingen kaum zusammen. Aber genau diese Brüche haben die Jugendlichen aufgegriffen und damit gearbeitet. Sie waren das eigentliche Motiv der Inszenierung. Und dieses Motiv, das hatte mit ihnen zu tun. Das waren die biografischen Brüche, die sie bis dato selbst erlebt hatten. Und deshalb fand ich es am Ende absolut überzeugend und stimmig.»

Erlebnis als Quelle


Die eine Eurythmie, die gibt es nicht, sind sich Langescheid und von Verschuer sicher. «Es gibt Gesten für Laute, für Seelenstimmungen und so weiter. Das ist Handwerkszeug, das die Schüler:innen sich erarbeiten können. Letztlich geht es aber immer darum, etwas Inneres nach außen zu tragen und dafür braucht es manchmal auch neue Gebärden und neue Formen», fasst von Verschuer zusammen. Langescheid ergänzt: «Die Quelle einer Bewegung ist immer ein Erlebnis, eine Erfahrung. Und davon gibt es in jedem Menschenleben und in jeder Lebensphase, an jedem Tag unzählige.» Umgekehrt könne aber auch eine Bewegung selbst zu einem Erlebnis werden. Wenn es aber nach Langescheid und von Verschuer geht, können die Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit auch ganz getrost alles vergessen, was sie je an eurythmischem Handwerkszeug gelernt haben. Denn um die Eurythmie, um die geht es schließlich nicht, sondern allein darum, wie die jungen Menschen mit sich und der Welt in Beziehung stehen.

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