Bewährte Strukturen in den staatlichen Schulen
Die Kinder gehen vier (in Berlin und Brandenburg sogar sechs) Jahre lang auf die Grundschule und wechseln anschließend auf eine der weiterführenden Schulen. Je nach Notendurchschnitt und Empfehlung der Grundschullehrer:innen wird dies die Haupt-, Real-, Gesamtschule sein oder das Gymnasium. Nach der zehnten Klasse erhalten die Schüler:innen nach bestandener Prüfung ihren Mittleren Abschluss, nach der 13. Klasse das Abitur. So ist die recht klare Struktur, die sich bewährt hat und mit der man sich auf keine Experimente einlassen muss. Es gibt Zensuren, die eine Vergleichbarkeit der Leistungen gewährleisten. Erfüllt das Kind die Leistungsvorgaben nicht, wiederholt es die Klasse, um versäumte Inhalte nachzuholen.
Auch der Fächerkanon ist klar: Hier liegt der Lernschwerpunkt auf den sogenannten Hauptfächern, die zu den Prüfungen führen. Musik, Kunst, Handarbeit und dergleichen heißen Nebenfächer und werden entsprechend gewichtet. Alle Fächer werden von Fachkräften in 45 Minuten langen Unterrichtsstunden erteilt. Diese Fachkräfte haben ihr Fach an der Universität studiert, anschließend ihr Referendariat absolviert und dieses mit einer Staatsprüfung abgeschlossen. Ein in sich geschlossenes, logisches System, das eine gewisse Erfolgsgeschichte hinter sich hat, selbst wenn die diversen PISA-Studien Fragen daran aufgeworfen haben. Warum also eine andere Schulform wählen? Und warum dann die Waldorfschule?
Der ursprüngliche Impuls ging von einem Fabrikbesitzer aus: Emil Molt, Eigentümer der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, wollte für die Kinder seiner Beschäftigten eine Schule, in der sie so gut ausgebildet würden, dass ihnen alle Ausbildungswege offen stünden: «Chancengleichheit» würde man das heute nennen. Emil Molt kannte Rudolf Steiner und war von dessen Ideen – unter anderem zur Sozialen Dreigliederung – begeistert. Zudem wusste er, dass Steiner über Unterrichtserfahrung verfügte, war dieser doch lange Zeit auch Privatlehrer gewesen. So bat er ihn darum, eine eigenständige Schulform für die Kinder seiner Beschäftigten zu entwickeln: Die «Waldorfschule» war geboren!
Seit der Eröffnung dieser Schulform 1919 hat sich an der Aufnahmevoraussetzung «Chancengleichheit» nichts geändert: Nicht die Herkunft des Kindes gibt den Ausschlag, sondern jede:r, der will, kann grundsätzlich an die Waldorfschule. Bei einer zu großen Anzahl von Anmeldungen werden Aufnahmegespräche geführt, die den Lehrer:innen einen individuellen Blick auf das Kind gewähren; danach müssen sie entscheiden (und eine Auswahl treffen, die ihnen nie leichtfällt). Auch bei den sogenannten Quereinsteiger:innen entscheidet sich eine mögliche Aufnahme nicht durch die Noten, die das Kind erhalten hat.
Gleicher Unterricht für Jungen und Mädchen
Eine Neuerung der Waldorfschule war damals die Koedukation. Heute ist sie für uns selbstverständlich, aber 1919 galt sie geradezu als revolutionär – zumal beide Geschlechter den gleichen Unterricht erhielten: Handarbeit, Werken, Gartenbau, Mathematik, Physik und so weiter. Auch wurden die Fächer nicht in Haupt- und Nebenfächer eingeteilt, sondern alle galten als gleichwertig. So erhielten handwerklich oder künstlerisch stärker begabte Jungen und Mädchen die gleiche Wertschätzung wie diejenigen, denen die kognitiv veranlagten Fächer mehr lagen.: „Kopf, Herz und Hand“ des Schülers/ der Schülerin sollten in einem eigens für die Schulform entwickelten Lehrplan gleichermaßen berührt und angeregt werden.
Vertikaler und horizontaler Lehrplan
Rudolf Steiner bildete in einem Intensivkurs die Lehrer:innen der ersten Waldorfschule selbst aus. Es stellte sich schnell heraus, dass der von ihm entworfene Lehrplan sich im Aufbau stark von dem der Staatsschulen unterschied. Zwar „wussten“ am Ende der Schulzeit die Schüler:innen der neuen Schulform das gleiche wie die an den anderen Schulen, aber sie hatten die Unterrichtsinhalte in einem anderen vertikalen Aufbau gelernt, der sich einzig an ihrem Lebensalter orientierte. Zudem griffen (und greifen noch immer) die einzelnen Fächer inhaltlich ineinander: Wurde zum Beispiel in der Mathematik das Bruchrechnen geübt, so waren die Notenwerte in der Musik das Thema. Lernten die Kinder etwas über das antike Griechenland und die Römer, so übten sie im Sportunterricht die entsprechenden Disziplinen und betrachteten in der Astronomie die Sternbilder mit den griechisch-römischen Namen. Diese Grundidee des horizontalen und am Alter orientieren Lehrplans an Waldorfschulen hat sich bis heute nicht verändert. Er ermöglicht den Schüler:innen das Begreifen von Zusammenhängen vieler verschiedener Lehrinhalte und gleichzeitig eine Ahnung oder ein Wissen um die Komplexität der Welt, in der sie leben.
Epochenunterricht, Dreischritt, Klassengemeinschaft und Textzeugnisse
Ein besonderer Impuls, der bis heute die Waldorfschule von der staatlichen Schule unterscheidet, ist der Hauptunterricht, der in Epochen das Schuljahr durchzieht. Statt in 45-minütig wechselnden Unterrichtsfrequenzen den Lernstoff zu vermitteln, können die Schüler:innen in rund 100 Minuten (manchmal mehr, manchmal weniger) ganz eintauchen in die Welt dessen, was die Klassenlehrkraft ihnen über einen Zeitraum von drei bis vier Wochen täglich nahebringt. Idealerweise machen die an entsprechenden Lehrerseminaren ausgebildeten Waldorfpädagog:innen dies, indem sie die Kinder lebendig an das Unterrichtsthema heranführen und die Inhalte erst anschließend kognitiv aufbereiten. Als Beispiel diene die Physik: Ein Experiment wird vorgeführt, anschließend genauestens mündlich rein phänomenologisch beschrieben, dann schriftlich fixiert – und erst am nächsten Tag wird der physikalische Schluss daraus gezogen. Dieser Dreischritt des Hauptunterrichts durchzieht den Waldorfunterricht bis in die Oberstufe und gilt als grundlegend für alle Waldorflehrer:innen.
Fächer, die des häufigeren Übens bedürfen, wie Sport, Fremdsprachen, Deutsch und Mathematik, sowie die handwerklichen und künstlerischen Fächer werden im Anschluss an den Hauptunterricht – wie an den staatlichen Schulen - im Fachunterricht erteilt. Da eine Klasse als eine Gemeinschaft begriffen wird, ist das sogenannte Sitzenbleiben an Waldorfschulen ausgeschlossen. Die Kinder bleiben bis zum Ende der Schulzeit oder bis sie die Schule verlassen, zusammen. Daraus ergeben sich teilweise lebenslange Freundschaften, ist man doch durch Kindheit und Pubertät gemeinsam gegangen. Auch die Notenvergabe, auf die schon 1919 verzichtet wurde, ist bis heute erst in den Abschlussklassen obligatorisch. Stattdessen werden die Leistungen, die Entwicklung, die Neigungen und Wesenszüge der Schüler:innen in Textzeugnissen beschrieben. Wenn sich also jemand im Deutschunterricht mündlich gut beteiligt hat, die Rechtschreibung jedoch Schwächen aufweist, andererseits die Interpretationen eigenständige Ideen aufweisen, aber manchmal nicht zu Ende gedacht sind, dann wird das im Zeugnis so erläutert und ist aussagekräftiger als ein schlichtes „befriedigend“. Entsprechend der Idee der Sozialen Dreigliederung verwaltet sich bis heut jede Waldorfschule selbst und hat keine:n Direktor:in.
Freude am Lernen statt Angst vor den Noten
Alle bis hierher genannten Elemente der Waldorfpädagogik – und es gibt noch weitaus mehr – haben zum Ziel, im Laufe der Schulzeit eigenständiges Denken, ausgewogenes Urteilen und eine selbstbewusste Persönlichkeit zu entwickeln und zu stärken. Die Schüler:innen sollen nicht lernen, weil die Lehrkräfte es verlangen, sondern weil lebhaftes Interesse am Unterrichtstoff geweckt wurde und so Freude am Lernen entstanden ist. Noten und damit die Angst vorm Sitzenbleiben entfallen. Die Schulform antiautoritär zu nennen, wäre jedoch falsch: Es geht vielmehr um intrinsische statt extrinsischer Motivation. Sie war schon vor über hundert Jahren ein Pfeiler der Waldorfpädagogik und ist es bis heute geblieben. Und last but not least: Waldorfschüler:innen erhalten die gleichen Abschlüsse wie ihre Altersgenoss:innen in anderen Schulformen. Einziger Unterschied: Die mittleren Abschlüsse werden aufgrund des anderen Lehrplan-Aufbaus erst nach Klasse elf oder zwölf erworben. Aber auch an der Waldorfschule beendet das Abitur die 13. Klasse. Statistiken belegen außerdem, dass Waldorfschüler:innen bei den jeweiligen Abschlüssen im Notendurchschnitt sehr weit vorn liegen.
Die Grundlage einer gelungenen Schulbildung ist die vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Lehrkräften. Denn im gemeinsamen Mittelpunkt befindet sich immer das Kind.
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