Binden wir die Waldorf-Ashram-Katzen los!

Von Stefan Grosse, März 2023

Die erste Waldorfschule war ursprünglich für die Kinder der Arbeiter:innen der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik vorgesehen. Schon innerhalb sehr kurzer Zeit nach der Eröffnung der Schule hatte sich die Schülerzahl mehr als verdoppelt. Die Arbeiterkinder waren jedoch in der Minderheit. Das Klientel hatte sich verändert, denn die Mehrheit der Schüler:innen waren unterdessen Kinder von Eltern, die die Anthroposophie und Rudolf Steiner kannten.

Nun sind hundert Jahre vergangen. Rudolf Steiner ist inzwischen eine historische Persönlichkeit. Viele Eltern heute kennen die Anthroposophie, wenn überhaupt, dann eher peripher. Anthroposophie, hat man den Eindruck, wird mehr als eine Lebenseinstellung wahrgenommen, weniger als eine Ideenwelt und Erkenntnismethode. (Demeterwein zu trinken oder Infludoron einzunehmen, führt nicht regelmäßig zum tieferen Verständnis anthroposophischer Ideen).

Und den Lehrer:innen  geht es manchmal ein bisschen so, wie es in folgender Geschichte zugeht:

In Indien lebte einst ein weiser Guru. Jeden Abend, wenn seine Schüler und er sich zur Andacht versammelten, streunte die Ashram-Katze um sie herum. Das lenkte die Betenden ab. So befahl der Guru: «Bindet die Katze während des Gottesdienstes draußen an einen Pfosten». Schließlich starb der weise Guru. Die Katze wurde aber wie bisher jeden Abend zum Abendgottesdienst draußen angebunden. Als nach einigen Jahren auch die Katze starb, wurde eine neue angeschafft, um sie ordnungsgemäß während der Andacht draußen anzubinden. Hundert Jahre später schrieben die Schüler des Gurus gelehrte Abhandlungen darüber, welch wichtige Rolle eine an einen Pfosten gebundene Katze in jedem ordentlichen Gottesdienst spiele. Wer sich vor der Katze nicht verneigte, galt als Sünder. Und wer es wagte, die Bedeutung der angebundenen Katze in Frage zu stellen, wurde als Ketzer verbrannt.

Solche Ashram-Katzen gibt es einige in den Waldorfschulen! Ausufernde Jahreszeitentischlandschaften, die ihren eigentlichen Sinn längst verloren haben etwa oder Lehrplanangaben, die vor dem Stand der Forschung nicht mehr bestehen können, um nur zwei zu nennen.

Binden wir die Katzen los und lassen wir zu, dass sich anthroposophische Ideen lebendig entwickeln, damit aus ihnen die Kraft kommt, Gegenwartsfragen lebenspraktisch zu gestalten. Waldorfschulen sind auf der ganzen Welt in allen Kulturen und Gesellschaftsformen zu Hause, wenn die ihnen zugrunde liegenden Ideen lebendig und wandlungsfähig gehalten werden. Insbesondere sei vermerkt, dass Waldorfpädagogik keiner Religion und keinem Glaubensbekenntnis den Vorzug gibt, sie respektiert alle in gleichem Maße.

Stefan Grosse, * 1958, ist Klassen- und Religionslehrer an der FWS Esslingen und Mitglied im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen.

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