Ausgabe 07/08/25

Stiefkind oder Vorzeigeobjekt?

Ann-Kathrin Neundorf

Wirft man einen Blick auf die frühe Kindheit, zeigt sich: Wenn man sie lässt, dann suchen sich Kinder quasi von allein ihre Forschungsschwerpunkte aus. Fällt der Stock wirklich jedes Mal nach unten, wenn ich ihn loslasse? Wie tief ist diese Pfütze und wie hoch spritzt das Wasser, wenn ich darin springe? Spätestens im Grundschulalter werden aus diesen frühen Experimenten erste naturwissenschaftliche Fragen: Wie entsteht ein Regenbogen? Sieht meine Oma in Italien denselben Mond wie ich? Wieso verlieren die Bäume im Herbst ihre Blätter? Offensichtlich steckt das Forschen und neugierige Erkunden ganz natürlich in uns. Wie kann es aber gelingen, dieses Interesse aufrechtzuerhalten, um im besten Fall junge Menschen dabei zu unterstützen, aus ihrem Interesse einen beruflichen Werdegang zu formen?

Was die Studien zeigen
 

Seit Beginn der Nuller Jahre streben bundesweit zahlreiche Projekte und Initiativen eine Stärkung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen an Schulen an. Ursache für diese Qualitätsoffensive waren einerseits Anforderungen aus der Wirtschaft, die immer stärker auf Arbeitskräfte in Ingenieurs- und Informatikberufen angewiesen ist. Dem gegenüber steht das unterdurchschnittliche Abschneiden der Kinder in der Bundesrepublik bei internationalen Schüler:innen-Vergleichsstudien. Es zeigt sich, für allgemeinbildende Schulen sind die Naturwissenschaften ein Thema. Aber wie sieht es an Waldorfschulen aus? Sowohl die PISA-Ergebnisse aus Österreich als auch die Absolvent:innen-Studie aus dem Jahr 2007 deuten darauf hin, dass auch Waldorfschüler:innen ein Thema mit Naturwissenschaften haben — aber ganz anders, als es die Gerüchteküche vermuten lässt, schneiden sie in den Naturwissenschaften gut ab, besser als der Durchschnitt der Regelschüler:innen sogar. 9,8 Prozent der Waldorfschul-Absolvent:innen ergreifen außerdem Ingenieurs-Berufe und stellen damit die zweitgrößte Berufsgruppe unter den Ehemaligen (nach Lehrer:innen mit 14 Prozent). Haben Waldorfschüler:innen also sogar einen Vorteil, wenn es um MINT-Fächer geht?

Mit Gelassenheit zum Ingenieur
 

Noah Kremnitzky, ehemaliger Schüler der Rudolf-Steiner-Schule Nürtingen, denkt, zumindest hatte er keinen Nachteil: «Dadurch, dass ich Physik und Chemie im Abi hatte, war ich im Grundstudium gut vorbereitet. Ich war ungefähr auf demselben Stand wie meine Kommiliton:innen vom Technischen Gymnasium.» Anders, als manchen Absolvent:innen von Wirtschaftsgymnasien haben ihm bei seinem Infrastrukturmanagement-Studium keine Grundlagen gefehlt. «Ich habe mich schon immer für Häuser interessiert. Die habe ich schon als Kind gerne gezeichnet und auch später im Kunstunterricht, moderne Architektur», berichtet Kremnitzky. Das habe auch mal einen Rüffel von seinem Kunstlehrer gegeben, weil er keine Häuser mit Satteldach malte, erinnert sich der Bauingenieur schmunzelnd. Selbst mit mittelmäßigen Leistungen in Mathe brachte er den Mut auf, ein Ingenieursstudium zu wagen. Grundlage dafür war eine gewisse Gelassenheit: «Ich wollte es einfach mal ein Semester lang probieren und schauen, was passiert.» Aus dem Probieren wurde schließlich der Bachelorabschluss und heute, mit 25 Jahren, eine Anstellung als Projektmanager für Tiefbauprojekte bei einem großen Bauunternehmen in Berlin. Für die Matheklausuren habe er die Formeln in Geschichten und Gedichte verpackt und auf diese Weise auswendig gelernt. Womöglich ein Überbleibsel, eine Lernstrategie aus seiner Zeit als Waldorfschüler.

Mit Ottomotor gegen Bulimie-Lernen
 

Für Robert Neumann, promovierter Dozent für Medienpädagogik, Mathematik und Physik an der Freien Hochschule Stuttgart, könnte diese Gelassenheit, das Sich-etwas-Zutrauen, am fehlenden Leistungsdruck liegen. Womöglich ein Grund, weshalb so viele Waldorfschul-Absolvent:innen Ingenieurs-Berufe ergreifen: «Ihr Blick auf die Naturwissenschaften ist nicht vom Leistungsdruck verstellt, sondern er richtet sich viel freier auf den Lerngegenstand. Wenn man weiß, man muss eine gute Note kriegen, dann ist man viel schneller im Bulimie-Lernen und vergisst die Inhalte nach der Klausur wieder.» Im Gegensatz dazu sei das Lernen an Waldorfschulen vom phänomenologischen Ansatz geprägt: «Gerade in der Physik, aber auch in anderen Fächern, vollziehen wir das Lernen in einem Dreischritt», erklärt Neumann. Versuchsbeobachtung — Nachklang der Phänomene durch die Nacht — Versuchserkenntnis. Dadurch werden das genaue Beobachten und das objektive Dokumentieren geübt, ohne eine vorschnelle Antwort auf das Warum zu finden. Die Phänomene klingen in ihrer Klarheit nach und werden so durch die Nacht mitgenommen. Erst am nächsten Tag erlaubt man sich ein Urteil, eine Bewertung und Interpretation des Erlebten. Auf diese Weise wird nicht nur das Wissen über den vorliegenden Unterrichtsgegenstand vertieft, sondern auch die Urteilsfähigkeit der Schüler:innen trainiert. Da dem eigentlichen Erkenntnisgewinn konkrete Experimente vorausgehen, weckt der Lernstoff außerdem das Interesse der Kinder und Jugendlichen. Er wird greifbar, da er direkt mit ihrer Lebenswelt verbunden ist. «Ich glaube, es gibt keine Waldorfschule in Deutschland ohne Ottomotor in ihren Werkstätten», sagt Neumann lachend. «Wenn dann in den offenen Motor hineingeschaut wird und es im Experiment einen Knall gibt, weil ein Benzin-Luft-Gemisch verbrennt, dann vergessen das die Jugendlichen nicht mehr.» Erst am nächsten Tag wird besprochen, was genau in dem Motor passiert und wie das eigentlich mit den vier Takten funktioniert. Auf diese Weise werden technische Prinzipien erlebbar.

Phänomenologie spricht alle an
 

«In meiner Zeit als Oberstufenlehrer habe ich erlebt, dass Technik und Naturwissenschaft Mädchen wie Jungen gleich interessiert», so Neumann. Womöglich eine Folge dessen, dass Geschlechterklischees an Waldorfschulen aufgeweicht werden. Hier müssen die Jungs schließlich genauso Handarbeit machen wie die Mädchen. Die Mädchen wiederum müssen genauso bohren, sägen und hobeln. Obwohl in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Projekte für alle Schularten entstanden sind, um die MINT-Kompetenzen der Mädchen zu stärken, ist der Frauenanteil in diesen Studiengängen nur marginal gestiegen — um zehn Prozent seit 1992. «Ich glaube nicht, dass Mädchen einen gesonderten Zugang zu diesen Fächern brauchen. Die phänomenologische Herangehensweise präferiert kein Geschlecht», erzählt Neumann aus seinen persönlichen Erfahrungen als Waldorflehrer. «Solange das Klassenklima gut ist und jede:r etwas sagen kann, ohne ausgebuht zu werden, können Mädchen und Jungen gleichermaßen für die Inhalte begeistert werden.»

Dennoch kenne auch Neumann die Kinder, die an der Waldorfschule unterfordert sind und sich langweilen: «Das ist definitiv eine der größten Herausforderungen als Lehrkraft. In der Regel hat man vor allem die schwächeren Schüler:innen im Blick, weil man sich um die kümmern muss.» Dann stellt sich die Frage, was man mit den Schnellen macht? Wie kann man sie fordern, damit die auch etwas zu tun haben und sich nicht langweilen? Eine Antwort sei Binnendifferenzierung: Also unterschiedliche Aufgaben für die Schüler:innen, je nach Leistungsniveau. Eine weitere Möglichkeit sei das Prinzip der gegenseitigen Unterstützung: Die Schnellen helfen den Langsameren. Dies sei jedoch vom Klassenklima abhängig. Ist dieses in einer Schieflage, dann befinde man sich wieder in einem sozialen Thema und müsse als Lehrkraft daran arbeiten. Im Zweifel seien solche Maßnahmen, wie auch das Gelingen oder Nicht-Gelingen des Unterrichts, stark von der Lehrperson abhängig. Die Lehrkräfte-Problematik ist wohl auch die größte Herausforderung für die kommenden Jahre und Jahrzehnte. 

Mangelware MINT-Lehrer:in
 

«Ich würde sagen, MINT-Fächer haben an Waldorfschulen denselben Stellenwert wie andere Fächer auch, aber das dickste Problem ist der Lehrer:innenmangel. Der ist gerade im MINT-Bereich sehr groß», berichtet Neumann, der auch Mitglied der Lehrplankommission für Mathematik und Informatik ist. Dadurch, dass der Staat inzwischen die Hürden für Quereinsteiger:innen im Lehrberuf gesenkt hat, wird es für Waldorfschulen noch schwieriger, geeignetes Personal zu finden. Dann muss dafür gesorgt werden, dass zumindest die prüfungsrelevanten Inhalte abgedeckt sind.

«Wir haben einen Waldorf-Lehrplan für Mathematik ab der ersten Klasse, für Physik ab Klasse sechs und für Chemie ab Klasse sieben», so Neumann. Neu sei außerdem der Lehrplan für Medienpädagogik und Informatik, an dem der Medienpädagogik-Dozent selbst mitgeschrieben hat. Darin stehen auch schon Inhalte für die unteren Jahrgangsstufen. Wenn die Kinder beispielsweise im Kreuzstich eine Tasche besticken, erleben sie dabei ganz implizit ein erstes Konzept von Pixeln. Ab Klasse neun geht es dann mit grundlegender Computer-Software zur Textverarbeitung und Tabellenkalkulation los – bis hin zum ersten Programmieren. Während sich die jüngeren Kinder nur implizit mit solchen Inhalten befassen, ohne tiefere Erklärungen oder Analysen, werden die Zusammenhänge in den oberen Jahrgangsstufen explizit besprochen. Dies liege an der Theorie der Jahrsiebte, erklärt Neumann: «Wir gehen ja davon aus, dass die ersten sieben Jahre vor allem dazu da sind, den Körper zu entwickeln. Das zweite Jahrsiebt ist vor allem für die seelische Entwicklung zuständig. Erst im dritten Jahrsiebt werden die kognitiven Fähigkeiten tiefer ausgebildet.» Natürlich können auch schon jüngere Kinder Kausalitäten verstehen, beispielsweise dass der Schlüssel nach unten fällt, wenn man ihn loslässt. Auch Grundschüler:innen könnten schon einzelne Programmierungsschritte nachmachen, aber verstehen, was da wirklich passiert und wie die Funktionen zusammenhängen, können sie nicht. Deswegen lautet das Prinzip an Waldorfschulen nicht «je früher, umso besser», sondern «je später, desto intensiver». Was ich mit etwas mehr Lebensjahren erlebe, kann ich umso intensiver und damit auch nachhaltiger lernen.

Konkrete Probleme angehen
 

Was aber tun, wenn nun der eigene Sprössling ein größeres naturwissenschaftliches Interesse hat, vielleicht sogar eine Begabung? Einige Waldorfschulen haben sich bereits auf den Weg gemacht, bieten besondere Arbeitsgruppen an, wie die 3D-Druck-AG an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart, oder MINT-Zentren wie das an der Rudolf-Steiner-Schule Loheland, nahe Fulda. Seit April 2024 können die Waldorfschüler:innen in Loheland in einem modernen Medienzentrum ganz praxisnah mit Software experimentieren. Die Grundlage schafft eine Zweit-Epoche zu digitalen Arbeitsweisen in den Jahrgangsstufen neun und zehn. Darauf aufbauend werden in Projekten und Arbeitsgruppen konkrete Maßnahmen umgesetzt. Diese sind nicht nur mit dem Fachunterricht, sondern auch mit dem an die Schule angegliederten Bauernhof verknüpft. Ein Beispiel ist aktuell die Entwicklung eines Saugroboters, der verdorbenes Tierfutter im Stall erkennen und beseitigen kann. «Es geht nicht um das stumpfe Codieren nach Lehrbuch, sondern stets um die Frage Wie lösen wir unser konkretes Problem?», berichtet Werner Giove, Informatiklehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Loheland. Dabei lernen die Schüler:innen, digitale Werkzeuge, auch Künstliche Intelligenz, zielgerichtet einzusetzen. Erste Früchte trägt diese Neugier weckende Atmosphäre auch bei den Jahresarbeiten, die zumindest einige Schüler:innen auf MINT-Themen ausgerichtet haben. Wenn an der eigenen Schule nichts in dieser Form geboten ist, rät Neumann, einmal in den umliegenden Städten nach MINT-Angeboten zu suchen. An vielen Orten gibt es inzwischen Projekte, in denen sich Jugendliche, meist ab der achten oder neunten Klasse, intensiver mit verschiedenen Inhalten beschäftigen können. Eine Übersicht, zumindest über einige solcher Projekte, bietet die Karte von Komm mach MINT.

Zurück zur Ausgangsfrage: Wie gelingt es, die natürliche Neugier der Kinder zu bewahren? Es hat den Anschein, als wären Waldorfschulen, zumindest für den großen Durchschnitt der Schüler:innenschaft, auf dem richtigen Weg. Durch den phänomenologischen Ansatz und die alltagsorientierte Didaktik werden die Schüler:innen direkt bei dem abgeholt, was sie spannend finden. Auch Kremnitzky erinnert sich an so manches Experiment aus seinem Lieblingsfach Physik: «Die MINT-Fächer mit ihren vielen Versuchen fand ich immer cool, daran würde ich nichts ändern.» Etwas moderner dürfte die Ausstattung seiner Meinung nach ausfallen, mit Beamern, PCs und interaktiven Tafeln. Aber das ist dann wohl ein Thema für einen anderen Artikel! 

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