«Ich hatte schon mehrere Jugendromane geschrieben, mich immer wieder gefragt, was relevant ist, was aktuell ist für Jungen und Mädchen heute, aber dieses Thema hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm», sagt Martin Schäuble frei heraus. Die Rede ist von seinem Buch Alle Farben grau. Darin erzählt er die Geschichte von Paul, einem Jungen, der klüger ist als seine Lehrer, der Katzen liebt, Japanisch lernt und die Musik der siebziger Jahre feiert. Und die Geschichte von einem Jungen mit Abgründen, von denen lange Zeit niemand etwas ahnt. Mit 16 Jahren nimmt sich Paul das Leben – als alle denken, ein Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hätte die Wende gebracht. «Der konnte alles, nur das Leben fiel ihm schwer», sagt ein Mitschüler im Buch auf Pauls Beerdigung. Pauls Geschichte ist wahr und kam über seine Eltern auf Schäuble zu. Ein gemeinsamer Bekannter hat die Mutter und den Vater des Jungen mit dem Autor in Kontakt gebracht. «Die beiden verarbeiten den Verlust ihres Sohnes, indem sie sich in die Aufklärung stürzen, in den Tabubruch, in die Prävention. Alle Farben grau ist nur ein Teil davon. Sie machen das mittlerweile sehr professionell. Haben ein Sozialunternehmen gegründet, schulen Lehrkräfte, Eltern und Peers, sensibilisieren für psychische Erkrankungen bei jungen Menschen», erzählt Schäuble. Denn wie auch er während der Recherche zu seinem Roman gelernt hat: 90 Prozent aller Suizide sind die Folge psychischer Erkrankungen, von denen wiederum 75 Prozent ihren Anfang bereits im Kindes- und Jugendalter haben. Deshalb hätten sich die Eltern des Jungen nicht der Suizidprävention im engen Sinne verschrieben, sondern der Früherkennung von psychischen Erkrankungen, die auch geschulten Laien möglich ist. Paul litt an den Folgen einer Autismusspektrumsstörung und dadurch zuletzt an stark verschärften Depressionen. Beides wurde erst zwei Monate vor seinem Tod erkannt. Statistisch betrachtet, kennen alle Menschen in Deutschland eine Person mit einer psychischen Erkrankung. Denn insgesamt gibt es bundesweit 18 Millionen betroffene Erwachsene. Für Schäuble ein wesentliches Argument, sich Pauls Geschichte und der literarischen Verarbeitung anzunehmen. Für sein Buch hat er mit einer Psychologin, mit Ärzt:innen und Pädagog:innen gesprochen. Und mit verschiedenen Menschen aus Pauls Umfeld. Neben seinen Eltern mit Freund:innen, Mitschüler:innen, Mitpatient:innen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie und mit seinen Lehrkräften. Aus all diesen unterschiedlichen Perspektiven heraus erzählt auch das Buch Pauls Geschichte. Eines nimmt es gleich vorweg: Dass Paul sich das Leben genommen hat. «Diesbezüglich keine Spannung aufzubauen, ist wichtig», sagt Autor Schäuble. Denn für ihn ist klar: «Wer sich an die Verarbeitung so eines Stoffes macht, der übernimmt viel Verantwortung.» Schreibende könnten viel falsch, aber auch sehr viel richtig machen, wenn sie Suizid in einem Text thematisieren.
Werther und Papageno
Der Pressekodex gebietet für die Berichterstattung über Selbsttötungen Zurückhaltung. Denn allein die Berichterstattung kann einen negativen Einfluss auf suizidgefährdete Menschen haben. Dem Zusammenhang zwischen medialer Berichterstattung und dem Anstieg der Suizidrate, der gemeinhin als Werther-Effekt bekannt ist, stehen neue Ergebnisse der Suizidforschung gegenüber. Der Begriff Werther-Effekt geht zurück auf das Auftreten einer größeren Anzahl von Suiziden nach der Veröffentlichung von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers im Jahr 1774. Ein Team aus Forschenden von Universitäten in Wien, München und Leuven fand 2018 heraus, dass Experten-Interviews zum Thema Suizidprävention Suizidgedanken verringern können – unabhängig davon, ob die Interviewten eigene Erfahrungen mit Suizidalität im Artikel thematisieren. Die Studie von Benedikt Till und Thomas Niederkrotenthaler von der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin des Zentrums für Public Health an der MedUni Wien untermauert damit, was aus der Suizidforschung bereits seit längerer Zeit bekannt ist: Bei der Berichterstattung über Suizidalität geht es um das Wie. Im besten Fall kann eine Aufklärung durch andere Menschen mit eigenen suizidalen Erfahrungen Suizidgedanken sogar verringern. Die richtigen Worte können die Suche nach Hilfe auslösen. Diese Wirkung nennen Expert:innen den Papageno-Effekt – angelehnt an den Protagonisten in Mozarts Singspiel Die Zauberflöte, der glaubt, seine Papagena verloren zu haben und sich deshalb mit Suizidgedanken trägt. Papageno überwand seine Krise mit Hilfe von drei Knaben, die ihn vom Suizid abhielten.
Über Suizid schreiben
Mit der unumstößlichen Tatsache, dass Paul sich das Leben genommen hat, steigt Schäuble gleich auf Seite eins seines Werkes ein. «Wer Nervenkitzel sucht und sich immerzu fragen möchte, wird er oder wird er nicht, der ist bei Alle Farben grau falsch. Denn Nervenkitzel bedeutet auch Adrenalin und Adrenalin kann einen Kick geben, der gefällt. Genau das darf bei so einem Buch aber nicht passieren», erklärt der Autor. Von Pauls vorweggenommenen Suizid einmal abgesehen, wird die Geschichte chronologisch erzählt. Und sie endet keineswegs mit Pauls Tod. Sondern mit Alina, einem Mädchen, das Paul in der Psychiatrie kennenlernt – eine für den Roman erfundene Person. Genau wie Paul liebt Alina Katzen. Sie ist in der Psychiatrie, weil sie nach zwei gescheiterten Suizidversuchen «mal was anderes ausprobieren will». Anders als Paul entscheidet sich Alina am Ende fürs Leben. Sie öffnet sich der Behandlung, erfährt Unterstützung und entwickelt neuen Lebensmut und neue Lebenslust. «Personen wie Alina sind für ein Buch zum Thema Suizidalität entscheidend. Der Tod darf nie als Lösung, als Ausweg präsentiert werden. Es gibt Menschen, die sehen keine andere Perspektive, ja. Aber es braucht die Figuren, die Hoffnung machen, die es schaffen, aus der Krise herauszukommen», weiß Autor Schäuble. Außerdem wichtig für eine hilfreiche Literatur zum Thema: niemals die Tat schildern, die Methode benennen. Schäuble hat das in seinem Buch originell gelöst. An der Stelle, an der Paul sich das Leben nimmt, erscheint im Buch eine schwarze Seite. Sonst nichts. Eine ganze Seite – schwarz. Damit bannt er automatisch die Gefahr, den Suizid zu bagatellisieren, zu romantisieren oder zu heroisieren. Auch das alles Dinge, die laut Schäuble unbedingt zu vermeiden sind.
Eine wichtige Hilfestellung
Trotz aller Sorgfalt hat das Buch es schwer, den Weg in die Klassenzimmer zu finden. «Ich werde sehr häufig zu Lesungen in Schulen eingeladen. Allerdings sind meine anderen Veröffentlichungen gefragter als Alle Farben grau. Die Scheu vor dem Thema ist unglaublich groß. Suizid wird behandelt, als wäre er ansteckend», berichtet Schäuble von seinen Erfahrungen. Bei den Schüler:innen sei das Interesse am Buch hingegen groß. Wenn Schäuble es doch mit Alle Farben grau ins Klassenzimmer schafft, ging der Impuls meistens von den Jugendlichen aus. Die Lesung und auch die anschließende Bearbeitung des Buches im Unterricht werden ausgiebig vorbereitet. Zusammen mit einer Psychologin hat Schäuble einen Elternbrief verfasst, den Mütter, Väter und andere Erziehungsberechtigte vor der Lektüre ihrer Kinder erhalten. Der Brief soll die Wichtigkeit des Themas deutlich machen, Sorgen nehmen und Chancen aufzeigen. Bei den Lesungen selbst sind immer auch Schulsozialarbeiter:innen oder Vertrauenslehrer:innen anwesend, um mögliche Krisen aufzufangen und zu begleiten. Und wer fürchtet, vom Thema getriggert zu werden, darf der Lesung selbstverständlich fernbleiben. Die Unterrichtsmaterialien sind ebenfalls in Kooperation mit Psycholog:innen, Psychiater:innen und Pädagog:innen entstanden. Die intensive Beschäftigung mit dem Thema hat auch Schäubles Blick auf Kinder und Jugendliche verändert. Er ist selbst Vater von drei Söhnen und schaut jetzt anders auf seine Jungs. «Wenn eines unserer Kinder zum Beispiel ein absolutes Frustverhalten an den Tag legt, das normalerweise alle auf die Palme bringen würde, versuche ich jetzt, nicht selbst genervt zu sein, sondern gehe erstmal davon aus, dass es irgendeinen Grund gibt und versuche, dem auf die Spur zu kommen», berichtet Schäuble. Erst kürzlich hat er selbst den achtmonatigen Online-Kurs zu psychischen Erkrankungen im Jugendalter belegt, den Pauls Eltern mit Hilfe ihrer Stiftung ins Leben gerufen haben. «Das war ein echter Perspektivwechsel», sagt Schäuble. Wie die Kurse richtet sich auch sein Buch an Eltern, Lehrkräfte, Pädagog:innen, Trainer:innen und andere Menschen, die regelmäßig mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. «Die Kategorie Jugendbuch trifft es eigentlich nicht ganz. Das Thema ist so aufbereitet, dass es allen eine Hilfestellung sein kann, die nah an Kindern und Jugendlichen dran sind. Und es ist leider so groß, dass ich möglichst vielen den Mut wünsche, die Auseinandersetzung zu wagen», appelliert Schäuble.
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