«Ich suche gute farbige Tafelkreide für unsere Schule in Deutschland. Der europäische Händler Mercurius hat den Versand eingestellt und die Suche nach neuer Tafelkreide ist bisher vergeblich. Vorzugsweise eine Firma, die innerhalb Europas versendet. Vielen Dank!» Diese Nachricht veröffentlichte der Waldorflehrer Tar Avidan, der in Böblingen unterrichtet, im Internet.
Für die typischen Waldorftafelbilder kann nicht irgendeine bunte Kreide genutzt werden. Es braucht hochqualitative Kreiden mit sehr kräftigen Farben, um diese leuchtenden Kunstwerke zu erstellen. In der Vergangenheit nutzten die meisten deutschen Waldorfschulen Kreiden der Firma Anton Franz Mörtel mit dem Markennamen Drei Sterne, die 1898 beim kaiserlichen Patentamt in Berlin ihre Marke eintragen ließ. Seitdem war das Unternehmen für fünf Generationen im Familienbesitz. Mangels einer Nachfolge hat Anton Franz Mörtel, die bis dahin Deutschlands älteste Kreidefabrik war, vor zwei Jahren ihren Betrieb eingestellt.
Mercurius, ein weltweit tätiger Großhändler, der sich auf Unterrichtsmaterial für Waldorfschulen spezialisiert hat, verkaufte bisher auch Produkte von Franz Mörtel: Unter dem Eigennamen Art makes Sense hat Mercurius in der Zusammenarbeit mit Anton Franz Mörtel für viele Jahre eine für die hohen Ansprüche an Tafelbilder geeignete Tafelkreide ausgeliefert. «Die Schließung des Werks stellt uns vor eine Forschungsaufgabe», so Inke Kruse, Geschäftsführerin von Mercurius Deutschland sowie deren Schwesterfirma Stockmar. «Wir arbeiten intensiv daran, in Zusammenarbeit mit einem neuen Partner in Deutschland eine neue Tafelkreide unter dem Namen Art makes Sense zu entwickeln, denn eines ist klar: Für den Unterricht an Waldorfschulen braucht es gute Tafelkreide und da sehen wir uns in der Verantwortung. Tatsächlich haben noch weitere Lieferanten für Kreide in den letzten Jahren ihren Betrieb eingestellt, so dass wirklich eine besondere Kreidesituation für uns entstanden ist. Aktuell haben wir Produkte aus dem Hause Koh-i-Noor in unserem Programm, die wir gerne empfehlen. Wir erwarten, dass wir bis Jahresende die notwendigen Zertifizierungsschritte für unsere neue in Entwicklung befindliche Art makes Sense Tafelkreide für Deutschland aber auch weltweit umgesetzt haben werden».
Alternative aus Brasilien
Eine Alternative stellt die Tafelkreide von Apiscor, einer kleinen Firma im brasilianischen São Paulo, dar. Zwar sind auch europäische Produkte in Brasilien verfügbar, sie seien laut Julia Maria Gruenwaldt Monte jedoch teuer und nicht so leicht zugänglich wie etwa in Deutschland. Deshalb entwickelte sie im Jahr 2000 Wachsstifte, -blöcke und Aquarellfarben. Die vierfache Waldorfmutter war bis zu ihrer Rente als Chemikerin bei Hoechst in Brasilien Leiterin der Pigmentabteilung. Sie begann in ihrer Küche die Farben in leeren Lebensmitteldosen anzurühren. Die ersten Produkte wurden an die brasilianischen Waldorfschulen geschickt und nach deren Feedback weiter optimiert. 2011 fand eine starke Professionalisierung des Unternehmens statt.
Inzwischen waren ihre Tochter Soraya Gruenwaldt Monte und deren Ehemann Seiji Ueno in die Unternehmensleitung eingestiegen, weitere Mitarbeitende angestellt worden, sodass die Chemikerin 2014 auch Tafelkreide entwickeln konnte. Apiscor ist kein Unternehmen, bei dem der finanzielle Gewinn an erster Stelle steht. Vielmehr sehen die Eigentümer:innen das Wohl von Mensch und Umwelt als zentrales Ziel ihres Wirtschaftens.
Die Maßnahmen während der Coronapandemie waren in Brasilien deutlich massiver als in Deutschland. Die Schulen waren für über ein Jahr komplett geschlossen. Dies bedrohte die finanzielle Situation der Menschen, die hinter Apiscor stehen. Daher zogen Gruenwaldt Monte und ihr Ehemann 2020 nach Deutschland.
Vom Weihnachtsgeschenk in den Handel
Der Verkauf von Apiscorprodukten in Europa war nie geplant. Gruenwaldt Monte und Ueno dachten, eventuell an dem ein oder anderen Weihnachtsmarkt einen Stand zu betreiben. Und dann kam es ganz anders: Ihre Tochter besuchte inzwischen die Freie Waldorfschule Überlingen und schenkte einer Klassenkameradin eine Schachtel Bienenwachsblöcke zu Weihnachten. Der Vater des Mädchens war für Sedulus tätig, einem der großen Vertreiber von Waldorschulheften, und war von den Blöcken begeistert. So entstand der Kontakt und damit der Vertrieb von Apiscorprodukten in Deutschland völlig unerwartet. «Dann ging es ganz schnell», sagt Monte Gruenwaldt dazu. Inzwischen ist die Nachfrage größer als das Angebot. Bevor ein Schiff mit Apiscorprodukten in Europa ankommt, sind die Waren bereits verkauft.
Für die Tafelkreiden werden Gips, Pigmente und andere Mineralien verwendet. Eine Schachtel enthält 16 Farben. Noch immer überprüft Gruenwaldt Monte in Brasilien jede einzelne Farbe. Das Bild auf der Verpackung wurde von einem Freund Uenos gemalt. Ein ehemaliger Waldorflehrer startete auf Social Media ein Tafelbildprojekt, bei dem er von der Apiscorkreide schwärmte. Dadurch wurden viele Waldorfschulen auf diese Kreide aufmerksam. Zwischenzeitlich nutzt auch Avidan, der Schreiber des anfänglich genannten Posts, Apiscor Tafelkreide. Von der Qualität ist er begeistert, nur den Preis findet er zu hoch.
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