Die Hormone schießen, die Stimmungen schwanken, ehemals mitteilsame Kinder versinken in Schweigen, während ihre Körper sich grundlegend verändern. Ausgerechnet zu diesem Entwicklungszeitpunkt empfiehlt der Lehrplan eine der bedeutendsten Epochen der Waldorf-Oberstufe: die Goethe-Schiller-Epoche. Warum das so ist, erklärt unsere Autorin Petra Mühlenbrock.
Goethe und Schiller haben sehr unterschiedliche Biographien, die jeweils viel Potenzial zur Identifizierung bieten. Der heißblütige Schiller wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und wurde gezwungen, eine Militärschule zu absolvieren, die ihm nicht das kleinste bisschen Freiheit ermöglichte. Selbst als sein erstes Drama Die Räuber, heimlich bei Nacht geschrieben, direkt nach der Uraufführung zu einem fulminanten Erfolg wurde, durfte er das Militär nicht verlassen; ihm wurde sogar das Dichten verboten! Hier liegt sicher der Kern des Schiller'schen Freiheitsstrebens, das sein kurzes Leben bestimmte. Goethe dagegen, in Reichtum aufgewachsen, in zahlreiche Liebesgeschichten verstrickt, Erzieher eines Herzogs, erfolgreicher Dichter, Reisender, Forscher – was für ein Gegensatz zwischen diesen beiden Menschen! Wie konnten die beiden befreundet sein? Die Geschichte von der Entstehung dieser Verbindung hörten die Jugendlichen bislang immer mit Interesse, denn eine tiefe Frage dieses Alters klingt hier im Verborgenen an: Wer gehört zu mir? Wer sind meine Freund:innen? Ist es der Mensch, der mir ähnelt, oder der, der mich ergänzt? Solche latenten Fragen gilt es in der Oberstufe immer wieder respektvoll zu behandeln und indirekt (niemals direkt!) zu beantworten. Nicht zuletzt daran orientieren sich einige der großen Deutsch-Epochen der neunten bis zwölften Klasse wie Parzival oder Faust.
Doch die Welt hat sich verändert. Freundschaften kann man heutzutage auf Instagram pflegen, Bücher und Gedichte sind kaum mehr angesagt. Jugendliche lieben kurzweilige, spannende Serien, keine alten Dramen. Goethe? Schiller? Die sind doch «tausend Jahre tot und völlig verstaubt!».
Solche Fragen können eine Waldorflehrerin der Gegenwart durchaus umtreiben. Hat eine solche Deutsch-Epoche eigentlich noch immer ihre Berechtigung? Und wenn ja, wie kann ich sie methodisch greifen und den jungen Leuten der Gegenwart nahebringen? Sie modernisieren?
Schließlich hatte ich eine Eingebung: Ich untersuchte verschiedene Gedichte und Werke der beiden Klassiker daraufhin, ob sie sich zu anderen, moderneren Formen der Darbietung umarbeiten ließen. Im Anschluss teilte ich die Klasse in verschieden große Gruppen ein und schickte sie mit entsprechenden Arbeitsaufgaben in die während des Hauptunterrichts leeren Fachräume. Ein erstaunlicher und erfreulich selbstständiger Prozess nahm damit seinen Anfang!
Gedichte, Gedichte, Gedichte
Goethes Erlkönig und Totentanz, Schillers Bürgschaft und Taucher sollten zunächst in Prosasprache umgeschrieben werden. Dabei entstanden neue Dialoge, teilweise neue Rollen und sogar neue Ausgänge. Im Anschluss wurde der Musikraum gestürmt, um die neu entstandenen Werke auch klanglich umzusetzen. So entstanden nach und nach verschiedene Hörspiele und Podcasts, die die Gedichtinhalte ganz neu vor dem inneren Auge entstehen ließen. Sie wurden in einer abschließenden Aufführung den Eltern dergestalt vorgeführt, dass sich die Jugendlichen hinter einem Vorhang verbargen und das Ganze unsichtbar zu Gehör brachten.
Eine andere Gruppe entschied sich gegen ein Hörspiel und arbeitete Goethes Ballade vom wiederkehrenden Grafen in eine Therapiestunde um. Unfassbar, wie gut das gelang! Graf und Gräfin, Sohn und Sänger sowie die Psychiaterin saßen um einen Tisch und klärten Ehestreit und Familienkonstellation. Als sich der Sänger schlussendlich als Vater, Schwiegervater und Großvater outete und ein «Ich bin übrigens auch der König» hinterherschob, konnte kein Zuschauer mehr an sich halten! Eine wunderbare Situationskomik, an der sicher auch Goethe seine Freude gehabt hätte!
Aus Goethes Zauberlehrling entstand eine Pantomime, die der von Disneys Mickey Mouse in nichts nachstand.
Christian Wolf vor Gericht
Eine etwas größere Werkbearbeitung setzte sich mit Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre auseinander. Die kleine Erzählung endet damit, dass sich der Wilddieb und Mörder Christian Wolf einem Richter stellt, der ihm als einziger wirklich zugehört hatte. Aber was geschieht eigentlich danach? In meiner Klasse wurde Christian Wolf in einer gelungenen Inszenierung der Prozess gemacht. Er bekam einen Anwalt, es wurden die Figuren einer Richterin sowie eines Staatsanwalts hinzugefügt. Es traten verschiedene Zeugen auf, die Wolfs Jugendzeit, sein verbrecherisches Treiben, besonders auch seine Wilderei, beleuchteten. Schiller hat mit diesem Werk eine Art Psychologie eines Verbrechers geschaffen, was zu seiner Zeit etwas ganz Neues war. Die Schüler:innen weckten denn auch durch ihr Rollenspiel Mitleid und Verständnis für Christian Wolf, indem sie seine Beweggründe und seinen Weg abwärts einfühlsam illustrierten. Die Eltern, die der Vorführung beiwohnten, sollten als Geschworene urteilen und sprachen den Angeklagten zwar als Wilddieb schuldig, die Mordanklage wurde jedoch fallen gelassen.
Mein Name ist Tell. Wilhelm Tell.
Eine zweite größere Darbietung bildete die Modernisierung der berühmten Apfelschuss-Szene aus Schillers Wilhelm Tell. Die Darsteller:innen dachten sich neue Namen aus und genderten auf Gedeih und Verderb. Kommentar dazu: «Bei Schiller gibt es einfach zu viele Männer!» Landvogt Gessler mutierte zu einem Typ á la Donald Trump, vor dessen plakatiertem Konterfei (anstelle des Huts) sich die Bevölkerung niederwerfen musste. Bewacht wurde das Plakat von zwei weiblichen Securities in kugelsicheren Westen. Wilhelm Tell sah aus wie James Bond mit Sonnenbrille und Anzug, er hatte außerdem eine kleine Tochter, die sich – ähnlich wie in der Vorlage der kleine Walter – vertrauensvoll dem Vater als Ziel zur Verfügung stellte. Allerdings wurde nicht mit der Armbrust geschossen: Donald Trump bestand darauf, die ganze Nacht Bier-Pong zu spielen. Gewonnen hat er schließlich, weil er sich in die Bahn des Balls warf und das Spiel auf diese Weise höchst unfair zu seinen Gunsten entschied. So endete der Goethe-Schiller-Nachmittag für die Eltern mit einer humorvollen Darbietung.
Insgesamt gesehen hat diese Art der Auseinandersetzung mit den klassischen Werken die Neuntklässler:innen zu kreativer Höchstform gereizt. Alles erschien in neuem Licht, ohne seiner tieferen Bedeutung verlustig zu gehen, im Gegenteil! Außerdem hat die ganze Epoche allen Beteiligten viel Spaß gemacht.
Biographische Lapbooks
Ein Tag in der Woche war zudem den Biographien der Dichter gewidmet. Hier habe ich eine neue Form der schriftlichen Ausarbeitung erprobt, die ich an dieser Stelle wärmstens empfehlen möchte: das Lapbook, zu Deutsch Schoßbuch (nicht zu verwechseln mit dem «Labbook»). Unter bestimmten Oberbegriffen (Kindheit und Jugend, Ausbildung, Liebe, Werke, Tod) sollten sich die Schüler:innen Notizen zu meinen Biographie-Erzählungen machen und sie anschließend mit selbstgewählten Booklets, Leporellos oder Drehscheiben gestalten. Vorlagen dazu, die kopiert oder übertragen werden konnten, gab es in einem Ordner. Anstelle der Epochenhefte entstanden so orangene sowie blaue Lapbooks unterschiedlichster Art; erstere für den Sonnenmenschen Goethe, letztere für den Nachtmenschen Schiller. Eine tolle Alternative zu den Epochenheften!
Fazit
Rückblickend kann ich sagen, dass ich selten eine so lebhafte und kreative Auseinandersetzung mit Goethe und Schiller erlebt habe. Klassisch nennt man unter anderem auch etwas, das «in mustergültiger Weise ausgeführt» als zeitlos erscheint. In diesem Sinn haben die beiden Klassiker erneut ihre Zeitlosigkeit unter Beweis stellen dürfen. Ihre Aussagen und Inhalte erreichen die Jugendlichen offenbar noch immer, wenn sie sich ihnen auf ihre eigene Weise nähern dürfen.
Literatur: Doreen Blumenhagen: Lapbook. Quadrama. Pop-Up-Buch & Co. Originelle Methoden zur Auseinandersetzung mit Unterrichtsinhalten. Anleitungen und Vorlagen für die Sek I. Verlag an der Ruhr 2022
Die konkreten Arbeitsanweisungen finden sich im Waldorf-Ideenpool unter neunte Klasse, Deutsch.
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