Wer sich von ihrem Parkplatz aus der Waldorfschule in Nürtingen nähert, schlängelt sich einen Schotterweg entlang. Und wer aufmerksam hinsieht, der erkennt schnell, dass hier nicht nur Kinder und Erwachsene zusammenkommen. Immer wieder mal liegt ein Pferdeapfel herum oder auch eine bunte Hühnerfeder. Durch meine Kapuze dringt mir das ferne Blöken eines Schafes in die Ohren. Tiere sind in der Nürtinger Schule wichtig. Neben den Eseln Emily und Elfie sowie den Schafen Paula und Lotta leben auf dem Lerchenberg, wo die Schule steht, auch die Ziegen Tamy und Lucky, der Hahn Graf Bunt mit seiner Hühnerschar sowie mehrere Bienenvölker. Graf Bunt und seine Getreuen laufen tagsüber frei auf dem nicht eingezäunten Gelände herum und versammeln sich rasch um die Feuerstelle auf einer kleinen Anhöhe, wenn Susanne Holz sie mit ganz eigener Melodie zu sich ruft: «Bieeeb – Bibibibieeeeb!» Holz ist seit 16 Jahren an der Schule und durch sie kamen nach und nach die Tiere. Im ersten Beruf ist sie studierte Forstwirtin, heute begleitet sie eine sechste Klasse durchs Schulleben. Dabei bringt sie auch ihre Qualifikationen aus der tiergestützten Pädagogik, als Reitlehrerin und Erlebnispädagogin mit ein. Im Grunde jedoch erübrige sich durch die Tiere jede erdachte Pädagogik, meint Holz. «Das ist ja das tolle an ihnen. Ich brauche nicht viele Worte oder ausgeklügelte Methoden. Allein die Gegenwart eines Esels macht selbst dem größten Schreihals klar, dass er sich jetzt besser ruhig verhält und lieber auch keine Türen knallt.
Wahrhaftig statt abstrakt
So ähnlich formuliert es auch Joachim Mojzis, der Geschäftsführer der Freien Waldorfschule Chemnitz. Denn auch dort gehören Tiere zum Schulalltag, und das längst mit einer großen Selbstverständlichkeit. «Nie abstrakt», und «immer wahrhaftig» seien Tiere, deshalb entstehe die Verbindung zu ihnen unmittelbar und das sei ein echtes Geschenk. Mojzis weiß, wovon er spricht. Tiere, so erzählt er, umgeben ihn seit seinem fünften Lebensjahr. Als er die Geschäftsführung in Chemnitz vor knapp drei Jahren übernommen hat, war der Ausbau der tiergestützten Pädagogik eines seiner wichtigsten Anliegen. Bei Michael Wagner stieß er damit auf Resonanz. Der langjährige Gartenbaulehrer ist ebenfalls ein großer Tierfreund und war anfangs vor allem für die Bienenvölker im Schulgarten verantwortlich. Im Laufe der Jahre kamen auch andere Tiere hinzu. Schweinedame Sonja rettete er als Jungtier davor, als Spanferkel zu enden. Und zwei kranke Artgenossen päppelte er wieder auf und bewahrte sie damit vor der Notschlachtung. Außerdem holte er gemeinsam mit Schüler:innen mehrere Hühner aus einer Geflügelzuchtanlage, ehe sie geschlossen wurde. Heute haben sie wieder Federn und genießen die Freiheit. Ziegen und Laufenten komplettieren die Chemnitzer Tierschar.
Sicherheit und ein vertiefter Blick
Sowohl im baden-württembergischen Nürtingen als auch im sächsischen Chemnitz liegt in unmittelbarer Nachbarschaft oder in Laufdistanz zur Schule ein Kindergarten. Die Versorgung der Tiere übernehmen alle kleinen und großen Kinder gemeinsam. In Nürtingen sind es vor allem die Sonnenkinder, die Ältesten des Kindergartens also, die Kinder der Kernzeit mit ihren Betreuer:innen sowie die Sechstklässler:innen von Susanne Holz, die sich um die Tiere kümmern. Misten, füttern, striegeln, bewegen – die Schüler:innen kommen jeden Tag schon vor Unterrichtsbeginn und machen sich selbstständig an die Arbeit. In Chemnitz sind es neben Wagner in erster Linie die Kindergartenkolleg:innen Katja Seidel, Anja Treue und Andrea Klauke, die die Begegnung zwischen Kindern und Tieren anleiten. Außerdem Corinna Gust, die im Rahmen des Ganztags für die «Horthühner» verantwortlich ist. Drei von ihnen haben eine Ausbildung in tiergestützter Pädagogik oder tiergestützter Intervention absolviert. «Das hat vor allem Sicherheit in Rechtsfragen gebracht», berichtet Andrea Klauke. Allergien, Unfälle und Verletzungen auf Seiten der Kinder, aber auch veterinäramtliche Vorgaben für die Haltung die Tiere – all das waren wesentliche Elemente in der Ausbildung. Und noch etwas hat sich durch die Ausbildungen verändert. Mit gleich mehreren Profis im Team haben sich die Vorbehalte gegenüber der Tierhaltung im Kollegium verflüchtigt. «Die gab es bei uns durchaus und das ist auch nachvollziehbar und richtig. Heute ist davon aber nichts mehr übrig», erzählt Geschäftsführer Mojzis. Allein dafür hätte sich die Investition in die Ausbildung der Kolleginnen gelohnt. Zwischen 3.000 und 5.000 Euro kostet die je nach Anbieter pro Person. Mit 50 Prozent hat sich die Schule daran beteiligt, die andere Hälfte konnte mit einer staatlichen Förderung finanziert werden. «Inhaltlich», so beschreibt es Katja Seidel, «ermöglicht die Ausbildung einen vertieften Blick auf die Frage danach, was ein einzelnes Kind für seine sozial-emotionale Entwicklung braucht». Im Kindergarten hätten sie zum Beispiel einen Jungen, der aus Bulgarien stammt und unter selektivem Mutismus leidet. Das heißt, er kann aufgrund einer Angststörung nicht sprechen, obwohl er physisch dazu in der Lage ist. «Daran hat sich bisher zwar noch nichts geändert, aber wir sehen trotzdem, dass sich schon viel bei ihm getan hat, seit er regelmäßig unsere Ziegen und Esel besucht. Er ist interessierter und offener, nimmt mehr auf, bringt sich mehr ein und wirkt sicherer in den Abläufen», berichtet seine Erzieherin Anja Treue, die regelmäßig einzeln mit ihm arbeitet.
Impulse für den Unterricht
In Nürtingen wie in Chemnitz machen die Pädagog:innen beinahe täglich die Erfahrung, dass mit dem Halten der Tiere auch vieles verbunden ist, was sonst nur mühevoll oder eher künstlich im Schulalltag vorkommen würde. Susanne Holz denkt zum Beispiel an das Thema Tod und Abschied, das natürlich im Religionsunterricht Platz hat sowie in Kunst und Literatur, aber eher theoretisch und abstrakt. «Wenn ein Tier geht und wir es vielleicht sogar dabei begleiten beziehungsweise einen Prozess durchlaufen, in dem wir eines Tages eine Entscheidung fällen müssen über Leben und Tod, dann wird das Thema erfahr- und händelbar. Und für ältere Schüler:innen schließen sich Fragen daran an, die sie in den Politik- oder Ethikunterricht einbringen können.» In Nürtingen gibt es für die Fell- und Federnasen, die gestorben sind, einen eigenen Tierfriedhof auf dem Schulgelände. Manches Kreuz, das darauf steht, ist im Werkunterricht entstanden. «Da wurde also etwas gefertigt, das im Hier und Jetzt benötigt wurde – und das aus einer lebendigen Beziehung heraus. Da kommt also plötzlich auch im Werkunterricht eine besondere Qualität zum Tragen», sagt Holz. Auf der anderen Seite des Lebens, während der Geburt dreier Lämmer, hätte sie einmal «einen unglaublich weiblichen Moment» gehabt. Als es hieß, die Geburt gehe los, wollten zunächst viele Schüler:innen dabei sein und strömten aus ihren Klassenzimmern. Nach einer Weile verabschiedete sich der Großteil wieder, vor allem die Jungs. Übrig blieb eine Gruppe von Mädchen aus der Oberstufe. «Die blieben dabei, bis die Kleinen auf der Welt waren. Und währenddessen entstanden Gespräche übers Kinder-Bekommen, Gebären und Frau-Sein, die existenzielle Fragen aufwarfen und die Seele berührten. Da war plötzlich eine ungeahnte Offenheit und Nähe und das haben die Schafe ausgelöst», erinnert sich Susanne Holz.
In Chemnitz sind es vor allem auch Ernährungsfragen, die mit der Tierhaltung zusammenhängen. Denn schon vor allen Tieren war dort der bio-dynamische Schulgarten. Planen, säen, pflanzen, pflegen und ernten – all das geschieht in den Gartenbauepochen und auch im Rahmen des Ganztagsangebots. «Seit die Tiere da sind, ist das Ganze noch runder geworden. Seither ist es eine echte Kreislaufwirtschaft wie die Biodynamik sie auch vorsieht», sagt Michael Wagner froh. Die Ernte wird unter anderem in der Küche der Parzivalschule verarbeitet, die sich ganz in der Nähe der Chemnitzer Waldorfschule befindet. Die Parzivalschule ist eine waldorfpädagogische Förderschule für Lern- und Erziehungshilfe.
Der kleinste gemeinsame Nenner
In Nürtingen sorgen die Hühner von Graf Bunt sonntags nicht selten für frisch gekochte Eier auf dem Frühstückstisch. Denn an den Abenden, an den Wochenenden und in den Ferien sind es dort einzelne Familien, die die Tiere versorgen. «Das klappt sehr gut», berichtet Holz. Und zu wenige Freiwillige gäbe es nur ganz selten. Gemeinschaft – auch etwas, das durch die Tiere entsteht und zusammengehalten wird. «Manchmal sind sie der kleinste gemeinsame Nenner. Dann sorgen sie dafür, dass die Menschen in Beziehung treten und sich mit dem Gesamtorganismus Schule auf tätige Art verbunden fühlen», sagt die Lehrerin. Überhaupt seien die Tiere ein willkommener Anlass, einfach da zu sein, auf dem Schulgelände auf dem Lerchenberg. Gar nicht selten kämen die Alten aus dem Seniorenheim nebenan und würden Platz nehmen auf den Bänken um die Feuerstelle und warteten auf Graf Bunt und seine Getreuen. Dann sehen sie mitunter zu, wie Zweit- und Zwölftklässler:innen gemeinsam übers Gelände eilen, weil die Eseldamen Emily und Elfie mal wieder ausgebüchst sind. Das kommt vor, denn ihr Zaun ist alt und brüchig. Und während kleine und große Kinder zusammen versuchen, die beiden wieder einzufangen, erklären sich mir jetzt auch die Pferdeäpfel auf dem Schotterweg.
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