Über das Verschwinden von Vielfalt

Der Zoologe und Ökologe Josef H. Reichholf, Honorarprofessor an der TUM, ist Autor zahlreicher Bücher zu Fragen des Umwelt- und Naturschutzes, setzt sich aber auch kritisch mit dem Alarmismus von Untergangspropheten auseinander. In einem seiner Bücher vertritt er die unkonventionelle kulturgeschichtliche These, der Übergang vom Jäger- und Sammlerdasein zur Agrarwirtschaft sei hauptsächlich vom Interesse an der Verarbeitung und Lagerung rauscherzeugender Nahrungsmittel wie des aus Gerste gewonnenen Bieres motiviert gewesen. Die Erziehungskunst fragte ihn nach Gründen und Konsequenzen des »Insektensterbens«.

Erziehungskunst | Ende November 2017 wurde Dank der Zustimmung des deutschen Landwirtschaftsministers Schmidt die Zulassung von Glyphosat um fünf Jahre verlängert. Gleichzeitig regt sich alle Welt über das Insektensterben auf und apokalyptische Szenarien werden in den Medien entworfen. Wie passt das zusammen?

Josef Reichholf | Insektensterben, Singvogelschwund auf den Fluren sowie Grund- und Trinkwasserbelastungen auf der einen und das Glyphosat-Geschenk an die agroindustrielle Landwirtschaft auf der anderen Seite passen überhaupt nicht zusammen. Der Minister hat grob einseitig entschieden zugunsten der Landwirtschaft und der Glyphosat-Erzeugung. Es geht bei diesem Mittel aber nicht nur um die Frage, ob es krebserregend ist, sondern auch, wie es sich draußen in der Natur auf die anderen Lebewesen auswirkt. Seine Kollegin Barbara Hendricks vom Umweltministerium war zu Recht verärgert. Leider kennzeichnen derartig klientelbezogene Vorgehensweisen zunehmend die Politik in demokratischen Systemen, in denen die Minister wie die Abgeordneten eigentlich dem Wohl des Ganzen verpflichtet sind, dieses aber häufig ignorieren.

EK | Erstaunlich an der Feststellung, dass seit 1990 drei Viertel der Insekten in Deutschland verschwunden sind, ist die Tatsache, dass dieses Schwinden gerade in Schutzgebieten beobachtet wurde. Wie lässt sich das erklären? Und wie sieht es dann in Landwirtschaftsgebieten aus?

JR | Die Wirkungen der in der Landwirtschaft eingesetzten Giftstoffe und die Überdüngung machen nicht Halt an den Flurstücksgrenzen. Sie erfassen das ganze Land. Dass auch in Naturschutzgebieten die Häufigkeit der Insekten stark abgenommen hat, liegt vor allem an der Überdüngung. Diese begünstigt das Wachsen und Wuchern einiger weniger Pflanzenarten, die dadurch die Vielfalt der empfindlicheren, weil auf magere Verhältnisse eingestellten Arten verdrängen. Vor allem Stickstoff-Verbindungen gelangen auf dem Luftweg in großen Mengen auch in nicht bewirtschaftete Schutzgebiete, überdüngen diese und bewirken den Schwund der Insektenwelt. In Großstädten geht es daher vielen Tier- und Pflanzenarten viel besser als auf dem Land. In unserer Zeit ist Stickstoff zum »Erstick-Stoff« für die Artenvielfalt geworden.

EK | Kann die Landwirtschaft ohne Insekten überhaupt funktionieren?

JR | Wenn Landwirtschaft quasi-industriell betrieben wird, durchaus. Die auf Höchstleistungen ausgerichtete, alle Nebenwirkungen ignorierende Form will und braucht keine Insekten, von wenigen Kulturen abgesehen, die auf Blütenbestäubung durch Insekten angewiesen sind, wie die Obstbäume oder der Raps. Der Skandal ist, dass die industrielle Landwirtschaft, die natürliche Vorgänge missachtet, seit Jahrzehnten mit öffentlichen Mitteln hochsubventioniert wird, so dass wir alle als Steuerzahler die Naturvernichtung und Umweltbelastung mitfinanzieren müssen. Nachhaltige Landwirtschaft erzeugt mit der Natur, nicht gegen sie. Nur sie verdient es, Geld aus Steuermitteln zu bekommen, um sich gegen die hoch gerüstete Konkurrenz behaupten zu können. Unsere Agrarpolitik tut das Gegenteil. Sie hat die bäuerliche Landwirtschaft weitestgehend wegrationalisiert und es der ökologisch-biologischen Produktion sehr schwer gemacht, sich zu behaupten.

EK | Ende September 2017 wurden die Ergebnisse des Jena-Experiments publiziert, des größten Biodiversitätsexperiments weltweit, das seit 2002 durchgeführt wird. Für Professor Wolfgang Weisser von der Technischen Universität München kamen zwei Ergebnisse dieses Experiments überraschend: Dass Biodiversität knapp die Hälfte der Prozesse im Ökosystem beeinflusst und dass intensiv bewirtschaftetes Grünland keinen höheren Ertrag erzielt als solches mit hoher Biodiversität. Haben Sie diese Ergebnisse auch überrascht?

JR | Nein, denn dank meines erheblich höheren Alters kenne ich die Fluren von früher, als die Wiesen noch voller Blumen und Schmetterlinge waren, als es auf den Feldern noch Lerchen und Rebhühner gegeben hat. Damals wurde das Land nicht mehrmals im Jahr mit Gülle geflutet. Die gegenwärtig so hohen Erträge, welche die Intensivlandwirtschaft erwirtschaftet, werden mit extrem hohem Einsatz an Energie und chemischen Hilfsstoffen erkauft.

Müssten die Landwirte die Schäden, die sie dabei verursachen, ersetzen, und die Folgekosten der Belastungen übernehmen, die sie bewirken, wäre die scheinbar so ertragreiche moderne Landwirtschaft ein krasses Minusgeschäft. Aber die Politik hat es geschafft, der Gesellschaft billige Lebensmittel vorzugaukeln, die jedoch sehr teuer erkauft werden über die Agrarsubventionen und die Folgekosten für Trinkwasseraufbereitung und Abwasserbehandlung. Daher ist die sogenannte konventionelle Landwirtschaft volkswirtschaftlich betrachtet ein seit Jahrzehnten laufendes Minusgeschäft, von dem nur wenige profitieren. Und sie ist eine der stärksten Einflussgrößen auf das globale Klima. Ohne ihre grundlegende Änderung hin zu naturverträglichen Formen werden wir die Erwärmung des Klimas nicht bremsen können.

EK | Wenn es, wie Sie sagen, vielen Tier- und Pflanzenarten in Großstädten besser geht als auf dem Land, könnten sich dann vielleicht die Städte zu »Diversitätsasylen« entwickeln, in denen die bedrohten Arten Zuflucht finden? Oder ist eine solche Vorstellung illusorisch und das Verschwinden der Vielfalt irreversibel?

JR | Für einen Teil des Artenspektrums wirken die Städte tatsächlich bereits wie Asyle. Aber eben nur für einen Teil. Denn die Städte können selbstverständlich nicht das ganze Spektrum an Lebensräumen bieten – etwa für Spezialisten, die Moore oder weite offene Flächen benötigen. Auch Überschwemmungsgebiete von Flüssen, die einen besonders hohen Artenreichtum aufweisen, lassen sich nicht in die Städte verlagern. Größere und große Tierarten brauchen einfach auch entsprechend große Flächen, um sich erfolgreich fortpflanzen zu können. Solche soll und muss die Flur weiterhin bieten. Die Freiflächen in den Städten sind zu klein dafür. Dass Lerchen sogar in beträchtlicher Anzahl auf Flugplätzen vorkommen, darf nicht als Begründung dafür missbraucht werden, dass sie dort ja doch überleben, auch wenn Mais und Raps die Fluren total überziehen sollten. Die Blumen der Wiesen und Felder kann man zwar in Stadtparks anpflanzen und in Botanischen Gärten erhalten, aber die Menschen haben das Recht, Lerchen und Wildblumen im Freien auf den Fluren erleben zu können. Die Landwirtschaft steht in der Verpflichtung, die Artenvielfalt der Fluren zu erhalten, seit sie von der Gesellschaft Subventionen in Anspruch nimmt. Eigentlich sollte dies in einer auf solidarischer Partnerschaft aufbauenden Gesellschaft selbstverständlich sein.

EK | Die Waldorfschulen engagieren sich ja sehr für die Bienen. Es gibt das Projekt Bees & Trees, durch das Schulklassen angeregt werden sollen, selber Bienen auf dem Schulgelände zu halten und sich für den Erhalt der Vielfalt zu engagieren. Was können wir als Verbraucher sonst noch tun, um das rasante Verschwinden der Arten aufzuhalten? Ist es Ihrer Ansicht nach hilfreich, konsequent Bioprodukte oder sogar Demeterprodukte einzukaufen?

JR | Die Biolandwirtschaft zu fördern, ist auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag. Sollten an das Schulgelände landwirtschaftliche Nutzflächen angrenzen, auf denen kein Gift gespritzt wird, lässt sich dies am Verhalten und an der Leistung der Bienen direkt ablesen. Sogar in den Großstädten geht es ja den Bienen viel besser als auf dem Land, wenn dort Intensivlandwirtschaft betrieben wird.

Wichtige Beiträge zur Erhaltung der Vielfalt von Schmetterlingen, Bienen und anderen Insekten können aber auch die Kommunen leisten, wenn sie die Straßenränder, Böschungen und Freiflächen innerorts so pflegen, dass die Kleintierwelt und die Blumenvielfalt nicht geschädigt werden. Wo einfach abrasiert wird und dies als Pflege gilt, betreibt man Vernichtung, die zudem Geld kostet. Engagierte Bürger können dies ändern. Sie können Einfluss nehmen auf die Vorgehensweise der kommunalen Verwaltungen.

Die Fragen stellte Lorenzo Ravagli.