Ein Mädchen schaute mich entgeistert an und fragte skeptisch: »Wunderbar?« Schlagartig traten mir Bilder meiner eigenen Jugend ins Bewusstsein. Ich begann von neuem. Ich erzählte von mir, wie ich als Jugendlicher immer wieder den Spiegel von der Wand nahm, ihn vor mich auf den Tisch setzte und versuchte, mit dem Stift auf einem Blatt das unbekannte Wesen dort zu erfassen, und von den Zetteln, auf denen ich alle meine vermeintlichen körperlichen Mängel auflistete. Ich berichtete von der Zeit, in der ich nicht wusste, wohin ich meine Hände tun sollte, wenn ich im Kreis von Freunden war; alle anderen bewunderte ich wegen ihrer klaren Art zu denken und zu sprechen.»Ich dagegen hatte«, so fuhr ich fort– »keine eigene Meinung. Ich konnte spüren, was richtig ist, aber ich konnte es nicht denken. Und wenn ich es denken konnte, konnte ich es nicht in Worte fassen; und wenn ich es in Worte fassen konnte, so konnte ich es nicht aussprechen, weil ich vor meiner eigenen Stimme erschrak.« Und all diese Gefühle steigerten sich noch in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht …
Ich erinnere mich noch daran, wie nach der Verabschiedung der Klasse aus dem Unterricht meine Hand schmerzte. Alle nutzten die Gelegenheit, mir mit festestem Händedruck zu zeigen, dass sie sich im Tiefsten verstanden fühlten.
Das Vermessen des eigenen Leibes, das Sich-Vergleichen mit anderen und das Schämen – sie, scheinen dem Jugendalter wie Runen eingeschrieben. Es scheint eine nicht leichte Aufgabe zu sein, sich in diesem Alter mit dem eigenen Leib abzufinden, den man nicht bewusst gewählt hat, und mit den Zweifeln, Kräften und Sehnsüchten, die aus ihm aufsteigen.
»Scham ist der Schutzmantel der sich entwickelnden Persönlichkeit, ihrer Integrität, ihrer Innerlichkeit«, formulierte Wolfgang Schad.1 Wer sich mit Übergriffsprävention beschäftigt hat, weiß, wie wichtig für das Kind und für den späteren Erwachsenen die Erfahrung ist, dass dieser individuelle Raum respektiert wird, von früher Kindheit an.
Der Freiburger Psychologe Stephan Marks2 vergleicht die Scham mit einem Becher, der sich wie von selbst aus der Tiefe immer wieder füllt, bis er eines Tages überläuft. Dabei unterscheidet er »ein gesundes Maß« und ein »Zuviel«. Mit Letzterem meint er das Überflutet-Werden von Schamgefühlen, was einem pathologischen Zustand nahekomme und instinktive Schutzmechanismen wie Angreifen, Fliehen oder Sich-Verstecken auslöse. Das Bild steht noch vor mir, wie Marks über eine Stunde vor seinem Publikum auf- und abschritt, über Formen der Beschämung und der Schamabwehr sprach und dabei immer wieder Wasser aus einer Kanne in sein Glas goss, bis das Glas überlief und er selbst im Wasser stand.
Die Lehre ging unter die Haut: Die fatale Wirkung des Mobbings wurde bildhaft anschaubar. So auch die Folgen des Ignorierens von Kindern, von Jugendlichen sowie das Verweigern von Anerkennung und das konsequente Bevorzugen anderer.
Marks fasste zusammen: »Scham ist wie ein Seismograph, der sensibel reagiert, wenn das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit oder Integrität verletzt wurde, wenn die Würde eines Menschen verletzt wurde.«3
Der Lehrer:innen- und Erzieher:innenberuf ist in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt, durch Zurücksetzen oder Herabsetzung Scham zu erzeugen. Das kann völlig gedankenlos geschehen, aber auch die unglückselige Wirkung von Unsensibilität und Herrschsüchtigkeit sein. So sind wir als Eltern und Erzieher:innen aufgefordert, uns für diese Wirkungen unseres Verhaltens zu sensibilisieren. Für Pädagog:innen ist das eine Frage der Professionalität.
Wie begleiten wir transidente Kinder und Jugendliche?
Transidente Kinder fallen in der Gruppe lange nicht auf. Ihr innerer Konflikt, die Dissonanz von Leib und Seele, ist äußerlich nicht sichtbar. Oft haben sie ein reiches Innenleben und sind künstlerisch begabt. Das Begleiten transidenter Kinder ist ein Feld, auf dem wir bisher nur wenig Erfahrung haben. Wer denkt, was im ersten Moment naheliegen mag, dass es sich bei der Transidentität um eine vorübergehende Phase oder eine Modeerscheinung handelt, die sich legen oder leicht umzubiegen sein wird, dem fehlt die Erfahrung eines oder mehrerer Jugendlicher vor der Pubertät, die sich ritzen, mit Selbstmord drohen und Hilfe in der Psychiatrie suchen. Die Wurzeln der Transidentität und die Ursachen des ununterbrochenen Anstiegs der Zahl der Beratungssuchenden werfen große Fragen auf. Es gibt eine Reihe von Hypothesen, aber es besteht in der Forschung noch kein wissenschaftlicher Konsens.4 Wir können vermuten, dass familiäre Gegebenheiten und gesellschaftliche Bedingungen bei ihrer Entstehung eine Rolle spielen. Zugleich ahnen wir, dass tiefere Ursachen im Inkarnationsvorgang liegen könnten.
Viele Naturvölker kennen das Phänomen des Transidenten. Bei den Lakota-Indianern werden sie als »Two spirits« bezeichnet.5 Aus der anthroposophischen Märchendeutung wissen wir: Wenn von dem gesuchten Prinzen oder der Prinzessin die Rede ist, sind damit nicht Personen mit Geschlechterrollen gemeint. Es sind Bilder für die Suche des Menschen nach dem eigenen höheren Wesen. Die Hochzeit bedeutet nichts anderes als die Vermählung des Ich mit dem höheren Selbst. Das Ziel der Selbstwerdung ist damit erreicht. Das muss im Erzählen als Unterton mitschwingen. Bei genauerem Studium der Genesis wird deutlich, dass Adam nicht als Mann geschaffen wurde, der dann eine Frau an die Seite gestellt bekam, sondern als Mensch. Er war der aus Erde Geschaffene. Das bedeutet sein Name. Wir waren alle Adam. Erst im zweiten Kapitel kommt es zur Geschlechterdifferenzierung. Gott nahm nicht nur eine Rippe, sondern eine Seite des Menschen und gab ihr die Gestalt einer Frau. Tsela heißt im Hebräischen wohl Rippe, aber auch Seite. Der Schöpfungsmythos spricht von einem anfänglich übergeschlechtlichen Menschen, der sich beim Sündenfall in der geschlechtlichen Einseitigkeit zu erleben begann. Ein wesentlicher Beitrag der Anthroposophie zur Geschlechterdebatte blieb bislang unbeachtet. Der Gedanke der Ungeschlechtlichkeit der aus dem Vorgeburtlichen stammenden Ich-Individualität und die Gegengeschlechtlichkeit des Ätherleibes wurden weder in der öffentlichen Diskussion noch in der Pädagogik erwähnt. Das ist bedauerlich, da gerade in ihnen ein Schlüssel zu einem vertieften Verständnis der Geschlechterfrage liegt. Es gibt eine Fülle von pädagogischen Hilfsmitteln für die Aufklärung in der Familie, den Beziehungskundeunterricht und für die Begleitung von Klassen, in denen sich ein transidentes Kind befindet. Transidentität soll das Absonderliche, das Aus-der-Norm-Gefallene genommen werden.
Wie begleiten wir homosexuelle Jugendliche?
Homosexuelle, Transidente und ihr familiärer Umkreis müssen große seelische Energien aufbringen, um der sie bedrängenden Flut der gesellschaftlichen Beschämung standzuhalten. Wo tragen Lehrer:innen im Schulalltag zu dieser Belastung bei? Wie oft haben wir das große Beziehungsideal Mutter – Vater – Kind in Bildern und Geschichten vor Kindern ausgebreitet, das Ideal der heterosexuellen Beziehung, ohne an die Möglichkeit zu denken, dass wir homosexuell veranlagte Kinder oder Jugendliche in unseren Klassen haben? Wie oft müssen sie bis zu ihrem Schulabschluss gehört oder empfunden haben, dass sie nicht normal sind? Potentiell beginnt damit in der Schule eine lange Geschichte der Beschämung.
Wie können wir dem entgegenwirken, ohne die traditionellen Familienbeziehungen relativieren zu müssen? Es muss die Situation der anders gestimmten Kinder wenigstens ab und zu in Erscheinung treten. Sie müssen das Erlebnis der völligen Akzeptanz bekommen. Der Beziehungskundeunterricht gibt dazu Gelegenheit. Ich erzählte in einer achten Klasse von Begegnungen mit homosexuellen Paaren: Ein Kollege entschloss sich in der achten Klasse, die Eltern eines Schülers im Rahmen der Beziehungskunde in den Unterricht einzuladen. Es war ein homosexuelles Paar. Sie berichteten von ihrer Aufregung, als sie sich entschlossen hatten, ein Kind zu adoptieren. Wie sie das Zimmer einrichteten, einen Hochstuhl anschafften, Kinderkleider kauften und von der Freude, als sie dann zu dritt waren. Großes Staunen, Mitgefühl, Verständnis und Akzeptanz waren in der Klasse zu erleben. Wieviel überflüssiges Schämen kann durch ein beherztes Zugehen auf das, was ist, abgebaut werden?
Den richtigen Tonfall finden
Rudolf Steiner sprach im 14. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde von den Voraussetzungen für eine sinnvolle Aufklärung der Jugend und erwähnte dabei vor allem das Bewusstsein von einer tieferen Dimension der Sexualität. Es befähige den Lehrer oder die Lehrerin erst zu dem »richtigen Tonfall«.6 Was mit dem richtigen Tonfall gemeint sein könnte, ließe sich zum Beispiel anhand einer goetheanistischen Naturbetrachtung oder anhand der Einbeziehung der spirituell-kosmischen Dimensionen aufzeigen. Dadurch können die jungen Menschen am selben Gegenstand etwas vollkommen Neues erleben, etwas, das die verletzende Profanität aufhebt. Ein Beispiel:
Das Kind wächst nicht wie die Pflanze von unten nach oben, sondern umgekehrt: von oben nach unten, d.h. vom Kopf zu den Füssen. Eine umgekehrte Pflanze liegt unsichtbar in der menschlichen Gestalt. Ihre Wurzeln finden wir im menschlichen Haupt, in den Gedankenkräften, mit denen wir uns die Welt erschließen. Ihre Blätter erscheinen in den Lungenflügeln, in unseren Atemzügen. Die Blütenregion aber ist die Region der Geschlechtsorgane. Kann dieses Bild nicht neue Würde und ein ganz neues Empfinden zeugen?
In allen in diesem Aufsatz genannten Bereichen von Erziehung und Unterricht ging es um das Vermeiden überflüssiger Scham. Es gelingt dort, wo es mit der Suche nach dem Ich-Wesen des jungen Menschen, den wir begleiten, Hand in Hand geht. Für eine zu entwickelnde Beziehungskunde und die Förderung der Beziehungsfähigkeit heißt das: Gefestigte, selbstbewusste und beziehungsfähige Menschen können nur gedeihen, wo sie von Anfang an in ihrem innersten Wesen, d.h. auf ihrer Ich-Ebene, Bestätigung und Freundschaft erfahren. Solche Erfahrungen führen in menschenwürdige Beziehungen, die von Vertrauen und von der Freundschaft leben.
1 Wolfgang Schad: Scham als Entwicklungsraum des Menschen, in: Zeitschrift Die Drei, 12/1979
2 Stephan Marks: Scham. Die tabuisierte Emotion, Ostfildern 2021
3 ebd.
4 Die Ursachen des deutlichen Anstiegs der Zahl der Behandlungs- und Beratungssuchenden, darunter ein hoher Anteil von (nach ihrem Geburtsgeschlecht) weiblichen Jugendlichen, sind jedoch umstritten. Sie bedürfen nach Ansicht des Ethikrates dringend weiterer Klärung. Wegen der hohen Selbstverletzungsgefahr und Suizidalität, lautet die Empfehlung, »ist das Kind hinreichend einsichts- und urteilsfähig, um die Tragweite und Bedeutung der geplanten Behandlung zu verstehen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und danach zu entscheiden, muss sein Wille maßgeblich berücksichtigt werden. Ohne seine Zustimmung oder gar gegen seinen Willen – allein aufgrund der Einwilligung seiner Eltern – darf das Kind dann nicht behandelt werden.«
5 »Two-Spirit« ist eine vom Ojibwa-Wort nīšomanitō (ᓃᔓᒪᓂᑐ »Zweigeist«) ins Englische übersetzte Neubedeutung zur allgemeinen Bezeichnung eines dritten Geschlechts. Quelle: Wikipedia
6 Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde, Studienausgabe, Dornach 2019, S.617
Christian Breme war 35 Jahre lang als Klassen-, Kunst- und Werklehrer an Waldorfschulen in Deutschland und der Schweiz tätig. Heute ist er Dozent an der Akademie für Anthroposophische Pädagogik in Dornach und Gastdozent in der Lehrer:innenausbildung in anderen Ländern. Er initiierte an den Schweizer Rudolf-Steiner-Schulen die Integration einer »Beziehungskunde« in das Curriculum. www.ikaros.ch
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