Ausgabe 07-08/23

Überleben. Waldorf in der Ukraine

Olena Mezentseva

«Ich habe etwas in meinem Herzen, das nicht stirbt»

Lesya Ukrainka 

Der 24. Februar 2022 teilte unser Leben in «Vorher» und «Nachher». Wir wachten um 4 Uhr morgens mit den Geräuschen von Explosionen auf und das schreckliche Wort «Krieg» hielt Einzug in unseren Alltag. Nach ungläubigem Schrecken dachten wir: «Das kann nicht lange dauern», weil wir in einer zivilisierten Welt leben, weil wir uns an die Folgen des Zweiten Weltkriegs erinnern, weil wir immer verhandeln können, weil ... Die Menschen in Russland hatten doch dieselben Bücher gelesen, dieselben Filme gesehen und uns in den vergangenen Jahrzehnten besucht, ohne Visa oder Grenzen!

Was war «vorher»?

Die Waldorfpädagogik in der Ukraine hat den Weg der meisten postsozialistischen und postsowjetischen Länder eingeschlagen. Inspiriert vom Wind der Freiheit, dem Wunsch nach Veränderung und voller Begeisterung suchten junge Menschen in den 1990er-Jahren nach neuen Ideen, die Zukunft mit eigenen Händen zu gestalten. Später begannen sich Zentren anthroposophischer Initiativen zu Waldorfkindergärten und -schulen zu entwickeln.

Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, bis die Waldorfpädagogik in der Ukraine vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft genehmigt wurde. Heute ist sie vor Ort eines der vier vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft anerkannten, alternativ-pädagogischen Systeme, und Waldorflehrer:innen werden als Expert:innen in Ministerkommissionen eingeladen. Gemäß Bildungsgesetz kann jede Bildungseinrichtung eines der staatlichen Programme oder eines der vom Bildungsministerium anerkannten alternativen Programme wählen. Daher existieren in der Ukraine sowohl private als auch staatliche Waldorfschulen und -kindergärten. Beide Möglichkeiten haben ihre Vor- und Nachteile. Öffentliche Schulen und Kindergärten haben eine stärkere externe Kontrolle, verfügen aber über staatliche finanzielle Unterstützung, was während der Corona-Pandemie und auch jetzt in Kriegszeiten ein wichtiger Faktor ist. Private Bildungseinrichtungen werden weniger von staatlichen Behörden kontrolliert, sind aber finanziell ausschließlich auf die Eltern angewiesen.

Vor Februar 2023 gab es viele Treffen der verschiedenen Waldorfschulen: mit olympischen Spielen der fünften Klassen, mittelalterlichen Turnieren und Bällen für die sechste Klasse, Festivals von Theaterprojekten für die achten Klassen, Sommercamps und Konferenzen für Oberstufenschüler:innen. Vor jedem Schuljahr trafen sich die Lehrer:innen zu pädagogischen Konferenzen und Fachlehrer:innenseminaren. Jedes Jahr begrüßten wir neue Studierende, junge Kolleg:innen, bauten, planten ...

Was geschah nach dem 24. Februar?

Die natürliche Reaktion vieler Familien bestand darin, sich ihre Kinder zu schnappen und sofort zu fliehen. Mütter weckten ihre Kinder und setzten sie im Schlafanzug in Autos oder rannten bei Explosionen zu Bahnhöfen, Kinder klammerten sich an ihre Väter. Diese Männer hatten Tränen in den Augen, weil sie nicht wussten, ob sie ihr Kind jemals wiedersehen würden. Einige Frauen blieben in ihrer Heimat und versuchten, sich gegenseitig zu unterstützen. Doch immer mehr Nächte in kalten Kellern veranlassten sie, mit ihren Kindern zu fliehen. Sie nahmen nur das Nötigste mit auf die Reise: Schlafsäcke, warme Pullover und Socken, Thermoskannen mit heißem Tee, Essen für ein paar Tage, Dokumente.

Im ersten Kriegsmonat waren Schulen und Kindergärten wie eingefroren. Jede:r kümmerte sich um die eigene Familie, übernachtete in fremden Häusern, las jede Minute die Nachrichten am Telefon und lauschte dem Geräusch der Feuerwehrsirene. Dann begann das Netzwerken mit denen, die geflohen waren. Die eine war in der Westukraine, der andere in Polen oder der Tschechischen Republik – dort ist man näher an der Heimat. Andere sind zu Verwandten nach Italien oder Spanien, einige sogar bis nach Kanada geflohen. Doch die meisten Menschen unserer Schule waren in Deutschland. Hier gab es schon lange Kontakte zu Waldorfschulen, auch Christengemeinschaften hatten schon vor dem Krieg gastfreundlich ihre Türen für Übernachtungen geöffnet und uns herzlich aufgenommen.

Familien suchten den Kontakt zu ukrainischen Lehrer:innen. Einen Monat später begannen die Schulen, Online-Treffen zu organisieren. So konnte man sich zumindest sehen und erfahren, wer wo ist. Die pädagogischen Gremien mehrerer Waldorfschulen schlossen sich zusammen und erstellten einen Stundenplan für Schüler:innen, die nicht zur Schule kommen konnten. Lehrer:innen begannen, sich intensiv mit anthroposophischer Literatur zu beschäftigen und versuchten, eine Antwort auf die Frage zu finden: «Warum wir? Warum hier? Warum jetzt?»

Schulbetrieb im Krieg

Als im Herbst 2022 das neue Schuljahr begann, ging der Krieg weiter. Das Land musste sich an viele neue Regelungen anpassen. Auf dem Gelände vieler Schulen wurde im Sommer Militär ausgebildet, denn diese verfügten über Sporthallen, Kantinen und Keller. Das Bildungsministerium ordnete für jede Schule einen Luftschutzkeller an. Allerdings war nicht klar, ob Schulen wieder als Schulen öffnen durften.

Waldorfschulen und Kindergärten in den Städten Dnipro, Krywyj Rih, Saporischschja, Charkiw, Mykolajiw und Krementschuk arbeiteten als Gebiete in der Nähe oder im Kriegsgebiet ausschließlich online. Schulen und Kindergärten in Kiew und Odessa konnten das nur in Luftschutzkellern.

Online zu unterrichten ist keine wirkliche Option, da der Strom immer planmäßig und in verschiedenen Stadtteilen zu unterschiedlichen Zeiten abgeschaltet wird. Dadurch ist es fast unmöglich, einen Stundenplan zu erstellen. Im Schulkeller ohne Licht und Heizung kann man dank gespendeter Generatoren zwar hin und wieder lernen. Doch der Schulweg ist häufig ein Problem, weil bei Luftangriffen alle Verkehrsmittel ausfallen. Manchmal wacht man morgens auf und im Lehrer:innenchat stehen 27 Nachrichten, etwa: «Frau M. holt meine Klasse ab, weil die U-Bahn angehalten hat», oder: «Ich gehe über die Brücke über den Dnipro.» «Ich bin in anderthalb Stunden da», oder: «Luftalarm. Ist jemand in der Schule? Weil die Kinder schon weg sind» – «Ich bin hier. Ich werde alle mitnehmen und in den Keller bringen».

Viele Hauptunterricht-Stunden sehen so aus:

Morgenspruch –
Lied – Rhythmische Übung –
Mathe-Übungen – Luftalarm –
Keller – Mathe-Übungen –
Märchen – Ende der Stunde.

Ein Mensch überlebt unter fast allen Bedingungen. Lehrer:innen haben folgende Regeln erarbeitet: «Wir beginnen mit dem Unterricht eine Stunde nach dem Luftalarm, wenn er vor Schulbeginn ausgelöst wurde. Bei einem Luftangriff nehmen die Schüler:innen ihre Rucksäcke, Taschenlampen, Trinkwasser und einen Vorrat an Trockennahrung mit und jede Klasse weiß, welche Treppe sie in den Keller nehmen muss.»

Einige Psycholog:innen schreiben, dass Kinder ein hohes «Lebensresilienzpotenzial» haben, sich schnell anpassen und traumatische Lebensereignisse vergessen. Allerdings gibt es auch die Auffassung, dass psychische Traumata nicht nur im Menschen selbst, sondern über drei weitere Generationen fortbestehen. Als ich einen Kollegen fragte: «Was hält dich am Leben?» antwortete er: «Die Kinder! Sie sind so glücklich, in der Schule zu sein, ihre Klassenkamerad:innen zu treffen, gemeinsam etwas zu unternehmen, zu kommunizieren, zu lernen!» Lehrer:innen und Eltern geben sich alle Mühe, das Leben der Kinder einigermaßen normal zu gestalten: Sie halten den Rhythmus aufrecht, leiten Unterricht und Projekte, organisieren Ferien und Aufführungen. Unter Kriegsbedingungen ist dies eine besondere Herausforderung, da man nicht weiß, wo man den Jahreszeitentisch aufbauen soll – im Flur oder im Keller.

Laut Statistik des Verbandes der Waldorfinitiativen in der Ukraine leben derzeit zwei Drittel der Schulkinder nicht in ihrer Heimat und sitzen oft, wie mein deutscher Kollege sagte, «auf gepackten Koffern». Niemand weiß, ob sich die Anstrengungen der Anpassung an die neue Umgebung überhaupt lohnt. Schließlich wollen wir ja alle wieder nach Hause!

Ich möchte allen Schulen danken, die unsere Kinder aufgenommen haben, sie mit Fürsorge und Unterstützung umgeben, ihnen die neue Sprache beigebracht und ukrainische Familien unterstützt haben. «Wir fühlen uns wie in einer großen Familie» – solche Rückmeldungen hört man oft von ukrainischen Familien. Aber auf die Frage «Wie haben Sie Ihre Schulferien verbracht?», lautet die Antwort: «Wir waren in der Ukraine.» Sie haben sich mit den Vätern getroffen, doch die Zeit reicht nie, um alles zu besprechen. Oder es ließ sich vor lauter Sehnsucht nicht in Worte fassen.

Wie geht es weiter?

Der neue Bildungsminister der Ukraine hat angekündigt, dass das nächste akademische Jahr so weit wie möglich Vollzeit und vor Ort stattfinden soll. Aber sollen wir die Kinder zurück in die Ukraine bringen, wenn die Situation noch instabil und gefährlich ist? Andererseits: Wie kann man verhindern, dass Schulen für immer schließen? Das gilt besonders für Waldorfschulen und -kindergärten. Viele Kindergartenklassen und Gruppen, die nach der Waldorfpädagogik in öffentlichen Bildungseinrichtungen arbeiten, sind bereits geschlossen oder schließen im nächstes Jahr, da Schulen Klassen aus wirtschaftlichen Gründen zusammenlegen. Mit kleinen Initiativen könnten man beginnen und warten, bis die Kinder zurückkommen, damit der Betrieb wieder vollständig weitergehen kann.

Derzeit wird der ukrainische Trickfilm Mavka – Hüterin des Waldes, der auf dem Werk der ukrainischen Dichterin Lesya Ukrainka (1871 bis 1913) basiert, in Kinos in der Ukraine und in weiteren Ländern gezeigt. Der Animationsfilm hat nichts mit dem ursprünglichen Werk zu tun, außer den Namen der Hauptfiguren, wie es in der Populärkultur üblich ist. Aber Lesya Ukrainkas Mavkas Worte berühren die Seele aller Ukrainer:innen: «Nein, ich lebe, ich werde ewig leben, Ich habe etwas in meinem Herzen, das nicht stirbt!»

Olena Mezentseva, Doktorandin der Erziehungswissenschaften (Ph.D.), Lehrerin für englische Sprache und ausländische Literatur, Co-Vorsitzende der ukrainischen Organisation «Association of Waldorf Initiatives in Ukraine», Mitglied des International Council of Waldorf / Steiner Education The Hague Circle an der Pädagogischen Sektion des Goetheanum (Dornach, Schweiz). mrs.ukraine@yahoo.com

Vielen Dank an alle Menschen, die ukrainische Schulen, Familien und Kinder unterstützen!

Spenden zur Unterstützung der Waldorfschulen in der Ukraine nehmen die Freunde der Erziehungskunst entgegen: Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e. V. | GLS Bank | IBAN: DE47 4306 0967 0013 0420 10 | Verwendungszweck: Ukraine

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 1000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.