Vier-Tage-Woche, klimaneutral, sozial und digital: so sieht die Waldorfschule von morgen aus. Das haben Waldorfschüler:innen aus ganz Deutschland auf der Nordtagung im vergangenen Jahr in der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Bergstedt, die Waldorfschule 2032 – Wir blicken zurück zum Thema hatte, entwickelt. Herausgekommen ist ein konkreter 10-Punkte-Plan, der Schule neu, progressiv und mit der Schüler:innenschaft als wichtigen Entscheidungsträger denkt. Auch zehn Monate nach seiner Entstehung ist der Plan noch sehr aktuell.
Häufig begegnen Jugendliche noch immer Menschen, die nicht auf Augenhöhe mit ihnen sprechen, schlecht zuhören und über ihre Köpfe hinweg entscheiden. Adultismus nennt man das. Politische Entscheidungen bei Umwelt- und Klimafragen zugunsten ausbeuterischen Wirtschaftens sind dafür Paradebeispiele, denn sie sind eine Missachtung der jungen Generationen. Dass Fridays for Future von Schüler:innen getragen wird, die laut und sichtbar auf die Dringlichkeit aufmerksam machen, dass sich etwas verändern muss, ist nicht verwunderlich, denn sie sind es, die in dieser oft in abstrakter Ferne gedachten Zukunft leben werden. Meine größten Ängste und Sorgen als 13-Jährige drehten sich 2003 um meinen Teenager-Kosmos, also Freund:innen, Jungs und Schule. Immer wieder drangen zwar schon Bilder von Müllbergen irgendwo in Indien, Abholzungen tropischer Regenwälder und überfüllte Flüchtlingsboote vor Lampedusa zu mir durch. Ich wusste durchaus von der Wichtigkeit, Müll zu trennen und gemeinschaftlich zu handeln. Sich aktiv für eine bessere Welt einzusetzen, war hingegen die Aufgabe der Naturschutz-Aktivist:innen, der Erwachsenen, also nicht meine. Verdrängung gelang hervorragend.
Das liegt nun nur 20 Jahre zurück, in denen sich die Welt vor allem durch technologische Entwicklungen rasant geändert hat. Vieles, was damals in der breiten Öffentlichkeit als normal galt, wird heute zurecht infrage gestellt. Dabei zeigte der Club of Rome schon 1972 in seiner Studie Die Grenzen des Wachstums, welche Tragweite lokales Handeln auf der ganzen Welt hat und wie weit wir Menschen uns bei unserer Mission Fortschritt aus dem Fenster lehnen. Bis heute folgten diesem Bericht zahlreiche ethische Schriften über ökologisch richtiges Handeln, wissenschaftliche Erkenntnisse und Aufforderungen an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dennoch hält sich die Kurzsichtigkeit oder «Zukunftsvergessenheit der Erwachsenen», wie Greta Thunberg sie auf hartnäckige Weise nennt, und mündet in eine Ungerechtigkeit zwischen den Generationen. Welche Probleme wie angegangen werden, wird durch die Mehrheit der Wahlberechtigten entschieden, nicht durch diejenigen, die betroffen sind. Wie wichtig es ist, die Belange von Kindern und Jugendlichen in Form von im Grundgesetz verankerten Kinderrechten zu schützen sowie das Wahlalter zu senken, darauf machen auch etliche Kinderrechtsorganisationen aufmerksam.
Wenn sich einhundert Schüler:innen aus Waldorfschulen in ganz Deutschland zusammentun, um an einer gemeinsamen Vision für die Zukunft aller Waldorfschulen zu arbeiten, geschieht das in genau diesem Kontext. Um Veränderungen zu sehen, wollen sie selbst aktiv werden und als Bewohner:innen der Zukunft bitte auch zu Protagonist:innen bei Entscheidungsprozessen werden. Bei der Nordtagung im vergangenen September erarbeiteten Schüler:innenvertretungen aus Bremen, Hamburg, Niedersachen und Schleswig-Holstein in Begleitung des Geschäftsführers des Bundes der Freien Waldorfschulen Klaus-Peter Freitag unter dem Thema Waldorfschule 2032, wir blicken zurück Zukunftsvisionen für die Waldorfschule plus Vorschläge, mit welchen Maßnahmen man dorthin gelangen kann.
In Form eines 10-Punkte-Programms sollen diese bundesweit Schulen als Handlungsempfehlungen dienen. Dabei ging es den Schüler:innen nicht nur um umwelt- und klimabezogene Themen, sondern auch um soziale und schulpolitische Themen sowie generell darum, Schule ganzheitlich-kreativ neu zu denken. «Wir hatten von Anfang an im Organisationsteam den Wunsch, auf der Tagung etwas zu initiieren, was in die Öffentlichkeit getragen werden soll und worauf dann weiter Neues entstehen kann.
Ein Hintergrund ist natürlich, der Sicht von uns Schüler:innen Raum zu schaffen und diese konkret zu formulieren und deren Beachtung zu fordern», erklärte mir Jan Eckstaedt, einer der teilnehmenden Schüler:innenvertretungen. Der erste Punkt des Programms titelte Umweltbewusstsein, ein Attribut, das der Waldorfpädagogik schon immer inhärent ist und bei dem sich Waldorfkritiker:innen wie -freund:innen wohl einig sind. Was aber ist das Neue hier? Die Autonomie, die jede Waldorfschule bei der Gestaltung und Organisation hat, betrachten die Schüler:innenvertretungen bei der Frage nach dem Umweltbewusstsein aller Schulen als eher problematisch – Waldorfschulen unterschieden sich stark in klima- und umweltbewusstem Denken und Handeln. Das Ziel sei es aber, alle Schulen bis 2032 klimaneutral zu machen. Dafür sollen unter anderem Klimawerkstätten und klimabeauftragte Schüler:innen, Lehrkräfte und Eltern etabliert und im Unterricht soll ein stärkerer Fokus auf nachhaltige Themen gesetzt werden.
Was als Grundprinzip in der UN Kinderrechtskonvention steht, aber noch nicht Einzug in das deutsche Grundgesetzt gefunden hat, soll an den Waldorfschulen Umsetzung finden: das Recht auf Partizipation in Form von Ideenaustausch auf Augenhöhe sowie ein regelmäßig tagendes Schulparlament. Mehr Mitsprache, mehr transparente Kommunikation.
Ein weiterer Punkt, der sich laut den Schüler:innen aus der Vorstellung von Zukunft nicht mehr wegdenken lässt, aber noch Diskrepanzen in der Waldorflandschaft zeigt, ist das Thema Digitalisierung. Dazu hatten die rund hundert Schüler:innen einen klaren Standpunkt: Waldorfschulen brauchen aktuelle und adäquate technische Ausstattung. Leitungskreis, Pädagogikkreis und IT-Beauftragte sollen für eine gut zugängliche Ausstattung und finanzielle Ressourcen für den Ausbau der Technik verantwortlich sein. Darüber wünschten sie sich, ab der zehnten Klasse auch Unterricht auf digitalen Endgeräten zu machen.
In den letzten Jahren gab es viele Debatten über eine Abkehr von der 40-Stunden-Woche sowie die Etablierung eines bedingungslosen Grundeinkommens. In diesen Diskussionen ging es viel um Autonomie und eine kreativere, glücklichere Lebensgestaltung. Das bei der Nordtagung vorgestellte Konzept der Vier-Tage-Woche reiht sich da mit ein. Jeder Mittwoch stünde so allen Schüler:innen zur freien Gestaltung zur Verfügung. Diese Tage würden am Vortag vorbereitet und im Anschluss intensiv reflektiert. Und würde der Tag auch sinnvoll genutzt? Hier setzt dieser Ansatz direkt beim einzelnen Kind an, sagt Jan Eckstein:
«Ein scheinbar nicht sinnvoll genutzter Tag bietet ja sogar das größte Potenzial, daraus zu lernen und eben genau das ist die Idee, dass Schüler:innen einen ganzen Tag voller Freiheit bekommen, um daran zu lernen. Denn wir lernen theoretisch fürs Leben, doch wir sollten auch praktisch im Leben lernen, nicht erst nach der Schule.»
Nicht nur Fridays for Future hat hier inspiriert und gezeigt, wie es gehen kann, auch gibt es Konzepte wie den FreiDay, der an mittlerweile 111 Schulen eingeführt wurde und sich an den Global Goals der Vereinten Nationen orientiert (frei-day.org). Dieser Idee geht laut dem Cellisten und ehemaligem Waldorfschüler Amadeus Templeton ein nötiges und zeitgemäßes Umdenken voraus, das Schule nicht als Erziehung zur, sondern Praxis der Freiheit versteht.
Dass die Oberstufen der meisten Waldorfschulen keine Wahlfächer haben, beklagten die Schüler:innen mit der Forderung nach künstlerischen sowie naturwissenschaftlichen Wahlfächern. Für das Angebot verschiedener Wahlfächer muss es jedoch genügend Schüler:innen geben. Wie das in ausgedünnten Oberstufenklassen umzusetzen ist, wurde nicht erwähnt. Es weist aber auf die Aufgabe hin, Waldorfschule auch nach der achten Klasse attraktiv für Jugendliche zu machen.
Dazu passt auch das Dauerthema Abschlüsse: Für viele Schüler:innen steigt in den letzten Jahren vor dem Abschluss der Leistungsdruck von null auf über hundert. Die Gesellschaft erwarte von den Jugendlichen, einen möglichst guten Abschluss zu haben, kritisiert Jan Eckstaedt. «Oft wird der Sinn des Ganzen jedoch nicht hinterfragt. Deshalb ist es wichtig, dass Schüler:innen wissen, was auf sie zukommt, weshalb sie es machen oder auch lassen und was es für alternative Möglichkeiten gibt.» Andere Optionen gibt es nämlich, wie zum Beispiel das in vielen Ländern anerkannte Certificate of Steiner Education (CSE), das Abschlussportfolio oder den Ersten Allgemeinen Schulabschluss (ESA). Welche Möglichkeiten es aber wo gibt, sei vielen nicht klar. Jan Eckstaedt und seine Mitvisionär:innen fordern daher mehr transparente Kommunikation und Aufklärung.
Das 10-Punkte-Programm ist ein deutlicher, selbstbewusster Ausdruck von Selbstwirksamkeit der Jugendlichen und die dringende Forderung, aus eigener Kraft seine Umgebung wirksam verändern zu können. Es ist eine logische und zeitgemäße Entwicklung aus dem Grundfundament der Waldorfpädagogik heraus, die das Praktizieren von Freiheit ermöglichen muss. Den Akteur:innen von heute werden es im Jahr 2032 und danach alle Generationen danken.
Alle zehn Zukunftspunkte finden Sie hier als PDF.
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