Erst mit den Jahren arbeitete sich Steiner in immer neue Themenfelder vor. Nun sprach er über große geistesgeschichtliche Zusammenhänge, er versuchte den Weg der Menschheit von den alten Mythen und Religionen bis zur modernen Naturwissenschaft zu erhellen und skizzierte schließlich auch bestimmte Folgerungen für die Praxis. All das, wofür Steiner heute am bekanntesten ist – von den Waldorfschulen bis zur anthroposophischen Landwirtschaft – hat er im Grunde erst in seinen letzten Lebensjahren auf den Weg gebracht. Dennoch liegt es voll in der Logik des anthroposophischen Ansatzes: nicht nur ein neues Weltbild, sondern eine viel umfassendere kulturelle Veränderung anzuregen.
Während kritische Stimmen oft den Kontrast zwischen Steiners Frühwerk und seinem Spätwerk betonten und ihm vorwarfen, er habe sich höchst widersprüchlich entwickelt, meinte er: «Ich bewegte mich so vorwärts, dass ich zu dem, was in meiner Seele lebte, neue Gebiete hinzufand.»
Impulsgebend waren dabei übrigens fast immer bestimmte Fragen, die an ihn herangetragen wurden. In gewisser Weise reagierte er ständig auf das, was in seiner Umgebung als Problem aufgeworfen wurde, und er war wohl auch überzeugt, dass ein Geisteslehrer nie einfach bloß dozieren, sondern immer nur aus der Verbindung mit seinen Mitmenschen heraus wirken könne und sollte.
Überhaupt könnte man sagen, dass es im heutigen Blick auf Steiner eine Schieflage gibt. Fast alle – Anhänger wie Gegner – sehen vor allem die sozusagen spektakulären Seiten seines Werkes: seine Aussagen über schwierigste Fragen, von der Karma-Erkenntnis bis zur therapeutischen Wirkung von Meteoriten- staub. Viel weniger Beachtung finden seine ganz bodenständigen Hinweise zum inneren Schulungsweg und zu einer bewussten, ausgewogenen persönlichen Entwicklung. An deren Anfang stehen eben nicht Erleuchtung oder Hellsehen, sondern «innerste menschliche Bescheidenheit» und eine konditionsstarke Arbeit an sich selbst. Steiner: «Nicht tumultuarisch ist dieser Weg». Vielleicht ist er darum auch nicht recht beliebt.
Ausgabe 04/24
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