Selbstverständlich ist der Universalismus für Waldorschulen eine bestimmende Orientierung. Das ergibt sich aus der Art, wie ihr Ideengeber Rudolf Steiner das Allgemein-Menschliche gegenüber partikularen Interessen in den Mittelpunkt gerückt hat. Universalismus heißt ja zunächst, dass kein identitäres Sonderinteresse verfolgt wird. Dass ein offener, weltgewandter, kosmopolitischer Geist herrscht. Vor allem aber, dass die Würde und die Rechte einer jeden einzelnen Person geachtet werden. Aber diese Werte können nicht in einem luftleeren Raum bestehen, sie finden sich immer in konkreten, in sozialen, leiblichen, kulturellen, natürlichen oder institutionellen Zusammenhängen. Wir leben an bestimmten Orten, verständigen uns in einer bestimmten Sprache. Oft muss übersetzt werden. Auch im übertragenen Sinn. Es handelt sich um gefährdete Werte. Jeder universalistische Wert wie die Einhaltung der Menschenrechte oder die unbedingte Anerkennung der Menschenwürde findet sich also in einem bestimmten Kontext, der mitbedacht werden muss. Die Kulturwissenschaftlerin Nora Sternfeld spricht deshalb von einem situativen Universalismus. Es ist wichtig, das anzuerkennen. Die gesellschaftlichen Diskussionen der letzten beiden Jahrzehnte haben nämlich in breiter Form gezeigt, dass die im Zeitalter der Aufklärung formulierten Ideale der Gleichheit aller Menschen schon im Augenblick ihrer Formulierung missbraucht wurden und dass das bis heute wirkt. Sklavenhalter können keine Universalisten sein, hatten sich aber als solche verstanden.
Ungleichheiten und Privilegien
Unsere heutige gesellschaftliche Situation ist nach wie vor von starken Ungleichheiten und Privilegien durchzogen, die sich – wie struktureller Rassismus – oft erst bei einem genaueren Hinsehen zeigen. Wer privilegiert ist, merkt es meist nicht selber. Wir arbeiten daran, die Benachteiligung von diskriminierten Minderheiten zu verringern und aufzuheben. Wir tun das eben deshalb, weil wir das Ideal der Gleichheit von Menschen verfolgen. Identitätspolitik und Wokeness sind die berechtigten, vorübergehenden Formen, in denen sich die Ansprüche auf Gleichheit und Gesehen-werden von Minderheiten artikulieren, so lange sie nicht einbezogen sind. Sobald sich aber der Anspruch auf eine bestimmte Zugehörigkeit verfestigt und die eigenen Privilegien damit verteidigt werden, wird dieser Anspruch in bestimmten Fällen identitär, exklusiv, nationalistisch. Damit wird nicht auf Formen der Diskriminierung hingewiesen, sondern nur noch ein hartnäckiges Sonderinteresse verfolgt. Eine identitäre Haltung ist mit der Waldorfpädagogik nicht vereinbar. Während in den letzten Jahrzehnten eher identitätspolitische Diskussionen stark wurden und sich damit zugleich abzeichnete, inwiefern der Universalismus der Aufklärung versagt hatte, rückt neuerdings in den Blick, dass wir bei alle dem auf einen Universalismus nicht verzichten können. Aber er muss seiner blinden Flecken gewahr werden. Der Philosoph Omri Boehm ist der derzeit engagierteste Vertreter eines radikalen Universalismus. Diesen begründet er mit dem moralischen Idealismus von Kant und mit Martin Luther King. Eine entgegengesetzte, aber genauso überzeugende Form der Begründung vertritt die Philosophin Jule Govrin, die von einem «Universalismus von unten» spricht.
Wir teilen Verletzlichkeit
Hier geht es um die ebenso universell geltenden Tatsachen, dass wir in unserer leiblichen Verfasstheit auf Verbundenheit, Solidarität und Praktiken der Sorge angewiesen sind und als leibliche Menschen das universelle Faktum der Verletzlichkeit teilen. Mit einem solchen Ansatz kann kein Fake-Universalismus entstehen, der eine bestimmte Menschengruppe privilegiert. Was heißt es aber nun konkret, an einer Waldorfschule im universalistischen Sinn zu arbeiten? Für Lehrpersonen kann es zunächst ganz einfach heißen, keine Lieblingskinder zu haben, einzelne zu bevorzugen und andere zu benachteiligen. Das ist ein selbstverständliches pädagogisches Ethos, das vor allem von Klassenlehrpersonen der wirksamen professionellen Selbstreflexion bedarf. Es heißt aber zugleich auch, jedes Kind in seiner individuellen Besonderheit zu sehen und zu fördern. Das wiederum heißt, nicht alle Kinder gleich zu behandeln – aber nicht im Sinn von Sonderinteressen, sondern im Sinn der bestmöglichen Förderung jedes Einzelnen auf dem Hintergrund eines universellen Bildungsanspruchs beziehungsweise der Bildungsgerechtigkeit. Neben der faktisch bestehenden Bildungsungerechtigkeit, an deren fortlaufenden Verringerung wir im universalistischen Sinn arbeiten müssen, zeigt sich zugleich aber auch, dass wir es originär mit einer Situation der nichtreduzierbaren Vielheit zu tun haben.
Der Historiker Till van Rahden hat sich mit der Frage beschäftigt, wie die Einheit des Menschengeschlechts als Vielheit zu denken sei. Eine universalistische Haltung einzunehmen, heißt auch, mit unterschiedlichen Sichtweisen umgehen zu können, unterschiedliche Stimmen anzuerkennen und einzubeziehen. Unter Umständen aber auch, nicht-universalistische (weil zum Beispiel rechtsradikale) Stimmen zurückzuweisen. Der Universalismus ist also kein Zustand, den wir einfach so vorfinden, sondern eine Haltung, eine Arbeit und eine Orientierung, die es ermöglichen und fordern, sich auch immer wieder selbst in Frage zu stellen, die Komfortzone zu verlassen und bereit zu sein, sich zu ändern.
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