Die angeblich selbstverschuldete Krankheit oder eine Behinderung, so die Kritik am Begriff des Karmas, sei bei Anthroposoph:innen eine Folge von Verfehlungen aus früheren Inkarnationen und werde deswegen als Schicksal hingenommen. Diese Sichtweise sei menschenverachtend, unwissenschaftlich und esoterisch skurril, prangern Kritiker:innen an. Auch in der Anthroposophischen Gesellschaft ist das Thema Karma umstritten. Hier stehen die möglichen Karmaspekulationen über frühere Inkarnationen im Fokus, die das Thema suspekt machen. Als Folge sind Verunsicherungen entstanden, wie Karma zu verstehen ist und wie man sich dazu nach außen rechtfertigen kann. Möglich wäre, dass sich die anthroposophische Bewegung von dieser skurrilen Karmaesoterik gänzlich verabschiedet. Damit würde jedoch ein Kernthema der Anthroposophie ausgeklammert werden. Es stellt sich also die Frage, wie relevant der Karmagedanke für unsere gegenwärtige Kultur- und Zeitsituation ist und wie ein sinnstiftender Zugang möglich wird. Also: Warum macht der Karmagedanke Sinn? Wie verändert er meinen Blick auf die eigene Selbsterkenntnis? Wie verändert er mein Verantwortungsgefühl und Bewusstsein im sozialen Leben?
Folgen verstehen
Rudolf Steiner bringt den Zusammenhang von Ursache und Wirkung eines jeden Vorgangs ins Bewusstsein. Anders ausgedrückt: Wie gehe ich mit dem um, was ich selbst verursache? Es geht ihm um eine Steigerung der individuellen Verantwortung jedes Menschen für seine Taten, für seine selbst verursachten Probleme, Verletzungen, Konflikte und sonstige Herausforderungen.
Der Mensch ist geneigt, diese unangenehmen Herausforderungen eher zu verdrängen und die Schuld bei anderen zu sehen. Der erste verantwortungsvolle Schritt wäre also hier zunächst einmal, die Vorgänge objektiv zu betrachten. Wie habe ich gehandelt und wie die andere Person?
Der nächste Schritt besteht darin, meinen eigenen Anteil an dem Vorgang zu erkennen und anzuerkennen. Dann kann ich die Folgen minimieren und mich zum Beispiel entschuldigen. Darin liegt eine erhebliche Bewusstseinserweiterung, indem ich das Verhältnis von
Ursache und Wirkung ernst nehme und zu den Folgen meiner Taten stehe.
Dieser Vorgang ist ein erster Schritt eines karmischen Verständnisses und damit lebenspraktisch relevant. Die Menschheit als Ganzes lernt diesen Prozess gegenwärtig zum Beispiel im Krieg. Dieser ist nur zu verstehen, wenn alle Kriegsparteien gesehen und erkannt werden. Frieden entsteht nur auf dieser Grundlage!
Auch bei der Ökologiekrise müssen alle Beteiligten die Folgen ihres Handelns sehen und ihr Verhalten ändern. Der Zustand verarmender Länder und Regionen hat auch mit unserem eigenen Wohlstand und unserem Wirtschaftsgebaren zu tun. Soziale Konflikte sind nur zu überwinden, wenn die eigenen Beteiligungsvorgänge ins Bewusstsein kommen. Damit definiere ich Karma als Verantwortung für das, was ich im Leben verursache.
Das Ich von außen
Der zweite Ansatz zum Karmaverständnis ist die soziale Schulung und mein Verhältnis zu anderen Menschen. Dazu beschreibt Rudolf Steiner die Biografieübung: Blicke zurück auf dein Leben und vergegenwärtige die Menschen, die in dein Leben getreten sind. Welche Fähigkeiten, Werte, Erkenntnisse, Hoffnungen, sind durch sie entstanden? Damit wird deutlich: Du bist, was Du bist, durch andere Menschen. Auch wenn diese für dich Hindernisse bedeuten. Rudolf Steiner formuliert damit einen erweiterten Ich-Begriff: Mein Ich kommt mir von außen entgegen. Steiners «soziale Zukunft» entsteht so durch ein im Leben praktiziertes Karmaverständnis. Auf dieser Grundlage lassen sich zukünftige Probleme und Aufgaben lösen. Damit wird deutlich, worin die Basis eines anthroposophischen Karmaverständnisses liegt.
Karma als sozialer Übungsweg
Karma ist ein Kernthema der Anthroposophie, weil es schult, Verantwortung für alles Tun im Leben zu übernehmen. Weil es soziale Kompetenzen schult, die Verhältnisse zwischen den Menschen in einer tieferen Schicht wahrzunehmen und zu realisieren. Karma ist nicht die Widergabe dessen, was Rudolf Steiner gesagt hat. Es ist auch nicht die Benennung von früheren Inkarnationen, sondern ein sozialer Übungsweg. Es kommt auf den Umgang mit realen Lebensfragen an. Nicht auf das Ergebnis. Es geht um ein Bewusstsein für soziale Lebensvorgänge, um ein wacheres Auge für Beziehungen, um einen Sinn für menschliche Qualitäten, um die Ehrfurcht für das Einmalige im Menschen, um eine tiefere Begegnung, oder um die Frage: Was habe ich mit dir wirklich zu tun? In der anthroposophischen Bewegung gibt es viele Gruppierungen, die daran üben: von der Entdeckung historischer Menschenkonstellationen bis zu Üb-Gruppen zum Schicksalslernen als Biographiearbeit.
Erkenntnisse üben
Was von außen auf uns zukommt, hat mit uns zu tun. Was will uns das sagen und was lernen wir daraus? Wie wäre das Folgende: Wir brüsten uns nicht mit Rudolf Steiners esoterischen Ergebnissen. Wir bekennen uns dazu, dass wir dadurch Übende werden und erweiterte Erkenntnis suchen. Wir verstehen Vorwürfe als Hinweis darauf, dass wir selbst das Thema noch nicht vollständig erarbeitet haben und werden dazu aufgefordert tiefer einzusteigen.
Dazu gehören Fragen: Was verstehe ich unter Karma? Wie gehe ich damit um? Was ist für mich relevant? Wie kann ich meinen Weg auch anderen Menschen authentisch verständlich machen? Was bedeutet für mich Karma in meinem Beruf, in meiner sozialen Lebenspraxis? Was hat sich durch die Beschäftigung damit in meinem Leben geändert?
Hin zum aktiven Zukunftsakt
In der Medizin könnte die Antwort lauten, dass ich Krankheiten als zu mir gehörig annehme und selbst aktiv in den Heilungsprozess einsteige. In der Pädagogik geht es um die tiefere Wahrnehmung und Erkenntnis des Kindes. Wie kann ich seinen individuellen Weg fördern? Pädagogik ist in diesem Sinne eine Entdeckungsreise zur Andersartigkeit jedes Kindes und nicht ein formalisiertes Lehrinhalts-Programm. Sie soll nicht gleichschalten, sondern einen individuellen Schicksalsweg ermöglichen. Beides wäre ein aktiver Zukunftsakt und nicht ein Hinnehmen von angeblichen Verfehlungen aus früheren Inkarnationen. Karma macht nicht unfrei, sondern versteht Freiheit als Übernahme von Verantwortung für das, was jetzt und hier geschieht.
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