Obwohl die Orchesterepoche in der zweiten Klasse der Freien Waldorfschule Hildesheim seit dem ersten Mal im Jahr 2008 vom Konzept und dem Team her fast gleichgeblieben ist, erleben wir sie doch Jahr für Jahr als neu und überraschend. So widmen wir uns bis heute dieser Idee und ihrer Durchführung als Projekt, mit all seinen Unwägbarkeiten und immer wieder unerwarteten Erfahrungen.
Der Gründungsimpuls für die Orchesterepoche war die Erkenntnis, dass immer weniger Kinder die Möglichkeit haben, die zutiefst menschliche Erfahrung zu machen, sich aktiv mit der Musik und dem Erlernen eines Musikinstrumentes auseinanderzusetzen. Das ließ sich an unserer Schule direkt an den sinkenden Zahlen der Kinder ablesen, die in unseren Orchestern musizierten.
Zugleich wurden aber die Chancen, die eine musikalische Betätigung für die Entwicklung und Sozialfähigkeit des einzelnen Kindes bieten, wissenschaftlich erforscht und beschrieben, und in Orchesterprojekten auf der ganzen Welt erprobt.
In Hildesheim verfolgen wir den Ansatz, den Kindern innerhalb von zwei Wochen eine kurze, aber sehr intensive Arbeitsphase zu bieten, in der sie die ausgeliehenen Instrumente auch mit nach Hause nehmen. Sie spielen auf je einem hohen und einem tiefen Streichinstrument und lernen so die Violine, die Viola, das Violoncello und den Kontrabass kennen. Am Ende dieser Zeit steht dann ein kleines Konzert für die Eltern.
Wir arbeiten im Wesentlichen mit Liedern, die die Kinder aus der Schule kennen. So wird die Musik zunächst vom Gesang getragen und vom Lehrerteam instrumental begleitet. Anschließend zeigen wir, spezifisch für die vier Instrumentengruppen, einfache Begleitmuster, die von den Kindern ausgeführt werden können. Die Melodie wechselt dann instrumental in das Lehrerteam, sodass wiederum ein vollständiges musikalisches Erlebnis möglich wird. Im Verlauf der Orchesterepoche überraschen wir die Kinder auch mit schwungvollen, meist schnelleren Melodien, die sie vorher in der Regel nicht kannten.
Die Lieder entstammen meist dem gängigen Unterstufenrepertoire. Sie kommen den in Quinten und Quarten gestimmten Streichinstrumenten für die Begleitungen sehr entgegen. Die Bearbeitungen der Lieder werden von unserem Cellisten ausgeführt und mit ihren jeweiligen Varianten jedes Jahr in einem kleinen Heft für die Arbeit zusammengefasst.
Zu Beginn werden die Instrumente immer gezupft, aber schon am zweiten Tag führen wir den Bogen ein. Zum einen brennen die Kinder darauf, zum anderen brauchen wir die sehr begrenzte Zeit, um die Handhabung mit den Kindern einzuüben.
Uns ist bewusst, dass in einem so kurzen Zeitraum keine fundierten Fähigkeiten vermittelt, werden können, sondern, dass dies nur der erste Schritt sein kann, um das Feuer der Begeisterung zu entfachen. Wir achten aber darauf, dass alles, was wir den Kindern für die Handhabung der Instrumente zeigen, technisch richtig ist und in einem eventuell anschließenden, individuellen Unterricht weiter angewandt werden kann. Auch die Sorgfalt und Vorsicht, die im Umgang mit den In-
strumenten nötig ist, besprechen und zeigen wir ausführlich. So berichten uns dann Eltern oft von einer liebevollen Fürsorge, wenn die Kinder die Instrumente über das Wochenende mit nach Hause nehmen.
In den letzten beiden Jahren hatten wir eine Neuerung, die pädagogisch noch einmal in eine andere Richtung weist: Je eine junge Assistentin aus zwei Klassen der Schule konnte in der Orchesterepoche ein pädagogisches Praktikum bei uns machen. Beide sind begeisterte Instrumentalistinnen und haben ihre Aufgaben so selbstständig und engagiert ergriffen, dass sich ihre Mitarbeit für das Team wie für die Kinder der jeweiligen zweiten Klasse nahtlos einfügte. Dieses Programm soll in der Zukunft weiter fortgesetzt werden.
Ein wichtiges Standbein der Orchesterepoche ist die kollegiale und organisatorische Zuverlässigkeit im Team; ohne die hätten wir nicht so lange durchhalten können. Und besonders wertvoll ist für uns die Zusammenarbeit mit unserem örtlichen Geigenbauer. Jahr für Jahr leiht er uns seinen großen Instrumentenbestand aus und stellt sich dabei ganz auf unsere Bedürfnisse ein. So kommt er dann auch manchmal in der Geschichte vor, die das Abschlusskonzert umrahmt.
Im Anschluss an die Orchesterepoche kommt es darauf an, was die einzelnen Familien daraus machen und ob eine individuelle Unterrichtssituation entstehen kann. Wir versuchen, dafür in Elternabenden Impulse zu geben und begleiten den Prozess mit unserem Instrumentallehrer:innenkollegium auch noch weiter.
Einen großen Einfluss haben dabei die Klassenlehrer:innen. Wir konnten in 15 Jahren erleben, wie unterschiedlich unsere Initiative aufgenommen und weitergetragen wurde und zu welchen Ergebnissen es dann letztlich jeweils führte.
Jedes Mal aufs Neue erleben wir dankbar die Freude und Hingabe, mit der die Kinder der zweiten Klasse die Instrumente in Empfang nehmen, darauf musizieren und zu einem Orchester zusammenwachsen. Wie sie eins werden mit dem eigenen Tun, dem gemeinsamen Atemstrom und den sich verschmelzenden musikalischen Klängen.
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