Literatur ist so immer ein Raum der Möglichkeiten, sie schult unseren «Möglichkeitssinn» (Robert Musil). Dadurch trägt sie die Potenz für ethische Aushandlungsprozesse in sich, durch die wir unser eigenes Selbstverständnis hinterfragen und unsere Identität immer wieder neu verorten können.
Philipp Kleinfercher geht in seiner Schrift Lesen als Kunst der Frage nach, wie durch ästhetische Erfahrung, hier durch das Lesen von Literatur, die «Subjektkonstituierung» im Jugendalter sich vollzieht und welche Bedeutung dem Literaturunterricht in der Waldorfschule dabei zukommt.
Gerade in der Adoleszenz ist die Frage nach dem eigenen Ich zentral. Es ist eine Zeit der fortwährenden Orientierungssuche in der Auseinandersetzung mit der Welt. Insofern stellt gerade Literatur auch für dieses Alter einen großen Schatz bereit.
Das Besondere und Einmalige an Kleinferchers Ausführungen ist nun, zu zeigen, dass ein Kontinuum zwischen dem Subjektbegriff und der Rezeptionsästhetik Ende des 18. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart besteht. Das Subjekt wurde damals schon nicht mehr als ein Ganzheitliches und in sich Abgeschlossenes betrachtet, sondern als etwas Fragmentarisches, das sich immer wieder neu selbst konstituieren muss. Als solches ist es ein immer Werdendes und sich Wandelndes. Dieses Subjekt kann in der Auseinandersetzung mit der Welt beziehungsweise mit der Literatur im übenden Denken – so die Frühromantiker – neue Erkenntnisorgane und Fähigkeiten erlangen.
Die zwei grundlegenden Kapitel über den Subjektbegriff und die Rezeptionsästhetik verknüpfen sehr instruktiv die Denkansätze von Fichte, Novalis und Schlegel mit denen von Rudolf Steiner oder Denkern des 20. Jahrhunderts sowie mit zeitgenössischen Philosoph:innen, Soziolog:innen, Literatur- und Erziehungswissenschaftler:innen. Für jeden Lesenden stellt diese Zusammenschau eine Fundgrube an Denkanstößen dar. Im vierten Kapitel werden der fragmentorientierte Subjektbegriff und die Notwendigkeit der Eigenaktivität in der Rezeption in Bezug zum Jugendalter und dem Literaturunterricht der Waldorfschule gesetzt. Hier ist entscheidend die gezeigte Transformation von der Philosophie Fichtes durch Steiner, die in der Waldorfpädagogik dann verwandelt erscheint. Während das fünfte Kapitel den Zusammenhang zwischen der Rezeptionsästhetik innerhalb der Waldorfpädagogik und der zeitgenössischen Literaturdidaktik herausarbeitet, stellt das sechste Kapitel einen ganz eigenen Ansatz der Literaturvermittlung aufgrund der herausgearbeiteten Erkenntnisse vor. Kleinfercher zeigt, wie Lehrende selbst zu Künstler:innen werden können, indem sie selbst lesend die Position der Schüler:innen mit einbezieht, sodass ein «trialogisches Lesen» entsteht. Dieses ist ergebnisoffen und beweglich – wie der Subjektbegriff auch. Das Buch schließt mit neun Gesichtspunkten, die für den Literaturunterricht entscheidend sind und Orientierung geben können – nicht nur für Schüler:innen. Auch wenn auf den ersten Blick vielleicht vor allem Pädagog:innen sich angesprochen fühlen, so sind die Fragen, die gestellt werden, für jeden interessant und bereichernd, der ein zeitgenössischer Mensch unserer komplexen und komplizierten Welt zu sein versucht.
Philipp Kleinfercher: Lesen als Kunst – Literaturdidaktik in der Waldorfpädagogik. Subjektbildung durch ästhetische Erfahrung im Jugendalter. 261 Seiten, Budrich Academic Press, 2024, 38 Euro.
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