Eine «wilde Hilde» sei ihre kleine Tochter Nike gewesen, sagt Mutter Isabell Riedling. Bis zu diesem einen Tag im Kindergarten, an dem sich ein schwerer Unfall ereignete. Ihre Tochter stand plötzlich in Flammen. Die inzwischen 13-jährige Nike kämpft bis heute mit den Folgen und leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Nike besucht die neunte Klasse der Waldorfschule in Satzvey in der Nordeifel. Seit bald einem Jahr wird sie von der Assistenzhündin Blue in den Unterricht begleitet.
Nach dem Unfall, den eine Kerze im Rahmen einer Geburtstagsfeier verursacht hatte, verbrachte Nike drei Wochen im Krankenhaus, davon fünf Tage auf der Intensivstation. Sie hatte Verbrennungen dritten Grades und wurde fünfmal operiert. Als Nike aus der Klinik entlassen war und zurück nach Hause kam, war es die Familienhündin Khaleesi, die ihr Halt geben konnte in einem Leben, das sich so extrem verändert hatte. «Anfangs kämpfte Nike mit einem Identitätsverlust. Ihr Kopf war kahl, ihre langen Haare fehlten, weil die Ärzte Haut vom Kopf entnahmen, um es an andere Stellen des Körpers zu transplantieren», erzählt Riedling. Die Deutsch-Langhaar-Dame Khaleesi ist Nike seit ihrer Heimkehr nicht mehr von der Seite gewichen – und die konnte das zulassen. «Ich hatte Khaleesi vorher noch nie so erlebt. Seit Nikes Unfall war sie immer ganz nah an ihr dran und mit dieser starken Präsenz hat sie Nike wieder und wieder dabei geholfen, zur Ruhe zu kommen und sich zu regulieren», erzählt Riedling. Denn Nike litt unter Schlafstörungen und hatte immer wieder Gefühlsausbrüche.
Mitzuerleben, wie es der Familienhündin gelang, Nike die Stabilität zu geben, die sie so dringend brauchte, das gab der Mutter einen neuen Impuls. Tiere und insbesondere Hunde hatten in ihrem Leben schon immer eine bedeutende Rolle gespielt, das besondere Verhältnis von Nike zu Khaleesi aber brachte sie auf die Idee, beruflich eine neue Richtung einzuschlagen. Sie absolvierte eine zweijährige Ausbildung zur Therapie- und Assistenzhunde-Trainerin beim Deutschen Berufsverband für Therapie und Behindertenbegleithunde. In ihrem früheren Berufsleben war Isabell Riedling Zahnarzthelferin. Heute arbeitet die fünffache Mutter pädagogisch im Bereich der tiergestützten Therapie. Daneben studiert sie noch Heilpädagogik an einer Fernuniversität. Die Assistenzhündin für Tochter Nike stammt aus der eigenen Zucht und wurde von Riedling selbst ausgebildet. Ein großes Glück für Nike, denn viele Betroffene können sich einen Assistenzhund nicht leisten. Ein Assistenzhund kostet nicht selten rund 20.000 Euro und wird nicht von der Krankenkasse übernommen. Nikes Hündin heißt Blue und ist ein Mini-American-Shepherd-Mädchen, das inzwischen fünf Jahre alt ist. Seit Mai vergangenen Jahres begleitet sie Nike täglich in die Schule. «Khaleesi wäre grundsätzlich auch geeignet gewesen. Sie ist aber zu groß und zu schwer. Denn gerade in Ausnahmesituationen, die sich bei traumatisierten Menschen jederzeit einstellen können, muss der Hund für den Menschen noch kontrollierbar sein», erklärt Riedling.
Schon die Anwesenheit wirkt positiv
Der Entscheidungsprozess, ob Blue mit Nike in die Schule darf, hat sechs Monate gedauert. «Neben ganz praktischen Fragen gab es auch grundsätzliche Bedenken, ob womöglich bald viele Kinder mit einem Tier in die Schule kommen – das sei dann nicht mehr zu stemmen. Nikes Klassenlehrer hat Blues Anwesenheit aber befürwortet und sich sehr für die beiden eingesetzt», erzählt Riedling. Blues fester Platz ist unter Nikes Schultisch. Dort legt sie sich ab und dort steht auch ein eigener Schulranzen für sie bereit. Darin sind nicht Hefte und Stifte, sondern zum Beispiel Feuchttücher, falls Blue mal Pfotenabdrücke hinterlässt. Aber auch Leckerlis sind in dem Rucksack drin. Denn Isabell Riedling und Nike arbeiten ausschließlich mit positiver Konditionierung. Anstatt Fehlverhalten zu bestrafen, wird erwünschtes Verhalten dabei mit einer Belohnung verstärkt. In den Pausen führt Nike Hündin Blue spazieren. Während des Sportunterrichts wartet Blue auf einer Decke in der Umkleide. Das hat sie so gelernt. Und wo immer sie sich auf dem Schulgelände befindet, ist sie an der Leine. «Im Wesentlichen ist es allein Blues Anwesenheit, die sich positiv auf Nike auswirkt. Blue strahlt Sicherheit und Ruhe aus und beides überträgt sich auf Nike», erzählt die Mutter. Es gibt aber auch Situationen, da unterstützt Blue ganz konkret. Denn wie viele traumatisierte Menschen hat auch Nike individuelle Trigger, die einen Flashback auslösen können, sie also zurück in die traumatische Situation von damals schleudern. Wenn Lehrkräfte die Klasse zum Beispiel etwas lauter und schärfer ansprechen, dann triggert Nike das. Denn im Moment des Unfalls wurden die Stimmen der Erzieherinnen, die damals den Unfall im Kindergarten zusammen mit Nike durchlebt haben, auch laut und angespannt. Eine bestimmte Tonalität ist für Nike also eng mit dem Trauma verknüpft und kann einen Flashback auslösen. Blue merkt das sofort. Sie spürt, wenn Nike angespannt und gestresst ist. Wie durch einen Tunnel schiebt sie sich dann von hinten durch Nikes Beine hindurch und stellt sich mit den Vorderpfoten auf Nikes Füße. Die Berührung hilft Nike dabei, im gegenwärtigen Moment zu bleiben und nicht in Vergangenes abzudriften. «Seit Blue sie in die Schule begleitet, hat Nike deutlich weniger Fehlzeiten», erzählt Riedling. Ihre Tochter würde sich mehr zutrauen, hätte zum Beispiel auch nach einer schlechten Nacht die Zuversicht, dass sie den Tag bewältigen kann. Und auch von eigenen Beiträgen im Unterricht würde sie seither häufiger erzählen.
Alles kann Blue aber nicht schaffen. Zusammen mit einer Traumatherapeutin für Kinder und Jugendliche arbeitet Nike daran, langfristig bestmöglich mit ihrer traumatischen Erfahrung leben zu können. Riedling kann die Fortschritte, die ihre Tochter macht, deutlich sehen und ist überzeugt, dass Nike eines Tages ein ganz normales Leben führen wird – dank Blue und anderer professioneller Helfer:innen.
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