Festen Boden unter den Füßen – den können Schüler:innen der neunten Klasse, die intensiv mit seelischen und körperlichen Umbruchprozessen beschäftigt sind, gut gebrauchen. Deshalb bieten ihnen Waldorfschulen mit dem Landwirtschaftspraktikum die Möglichkeit, sich im wahrsten Sinne des Wortes zu erden. Die Neuntklässler:innen erleben dabei, wie anstrengend und aufwendig körperliche Arbeit rund um die Nahrungsproduktion und die Schritte bis zur Vermarktung sind. Sie müssen sich in ungewohnte Arbeitsabläufe und fremde familiäre Strukturen integrieren und dazu noch Verantwortung für Tiere und Ernte übernehmen. Eine Menge externer Faktoren für jemanden, der bis dahin vor allem mit sich selbst beschäftigt war.
Die Waldorfschule Kleinmachnow geht noch einen Schritt weiter: Seit über 20 Jahren verbringen ihre Neuntklässler:innen das Landwirtschaftspraktikum auf Bio-Bauernhöfen in Frankreich. Hier stellen sie sich nicht nur in den neuen Zusammenhang eines landwirtschaftlichen Betriebes, sondern setzen sich auch noch mit einer anderen Kultur und Sprache auseinander. Entstanden ist die Idee vor über zwei Jahrzehnten durch den Impuls der Französischlehrerin Agnes Kuhs in Zusammenarbeit mit den vielen Muttersprachler:innen, die damals zur Schulgemeinschaft gehörten. «Außerdem sollte das Französische gegenüber dem allgegenwärtigen Englisch aufgewertet werden», berichtet die Französisch- und Englischlehrerin Gudrun Roy. Also begann die Suche nach Bio-Bauernhöfen in Frankreich, die Schüler:innen aufnehmen wollten. Im Lauf der Jahre ist daraus ein ganzes Netz von Höfen geworden.
Aufbruch aus Paris
Allerdings beteiligen sich nicht alle Schüler:innen am Praktikum in Frankreich. «Die Schüler:innen, die am Austauschprojekt Voltaire mit französischen Schulen teilnehmen, bleiben mit ihren französischen Austauschpartner:innen auf Höfen in Deutschland», erklärt Roy.
Für die anderen geht es zu Praktikumsbeginn zunächst einmal mit den begleitenden Lehrer:innen nach Paris. In der Klassengemeinschaft erleben die Schüler:innen die französische Hauptstadt meist als regelrecht mystischen Ort, so Roy. Zwei Nächte verbringt die Gruppe hier. Besonders beeindruckt würden die Schüler:innen nach Meinung der Französischlehrerin von den kulturellen Unterschieden und der anderen Bevölkerungsstruktur. «Das stärkt uns als Gruppe, bevor alle aufbrechen». Sternförmig machen sich die Schüler:innen dann alleine oder in Zweiergruppen auf den Weg in die entlegensten Regionen Frankreichs. «Das sind wenig dicht besiedelte Gebiete. Mit Paris, Marseille und Lyon haben sie wenig gemein», erklärt Roy. Bereits bei der Fahrt erleben die Schüler:innen zahlreiche Herausforderungen. Die meisten sind zum ersten Mal allein im Ausland unterwegs und verstehen die Sprache noch nicht sehr gut. Manchmal wird ein Ticket storniert, Züge fallen aus, oder sie müssen mehrfach, auch ungeplant, umsteigen. Dann stellt sich laut Roy die Frage: «Wie meistert man solche Situationen?»
Raus aus der Komfortzone!
Auch die Ankunft hält nicht nur schöne Überraschungen bereit, wie die Lehrerin beschreibt. «Die Bauernhöfe sind häufig ärmer und weniger gut ausgestattet als bei uns. Für viele Schüler:innen sind diese einfachen Verhältnisse eine echte Herausforderung. Sie müssen aus ihrer Komfortzone herauskommen. Manche schlafen in sehr einfachen Zimmern, die nicht nur für die Schüler:innen sind. Da stehen dann schon auch mal Tiefkühlschränke, in denen gefrorenes Tierfleisch aufbewahrt wird.» Dreieinhalb Wochen lang erleben die Praktikant:innen Arbeit, den festen Tagesablauf, gemeinsame Mahlzeiten und Freizeit auf einem landwirtschaftlichen Betrieb. Das sei, so Roy, auch eine unglaubliche kulturelle Erfahrung: «Genau das ist Ziel des Landwirtschaftspraktikums in Frankreich, genauso wie das Anpacken und das Verstehen von Lebensmittelzusammenhängen. Es kommt auch vor, dass Schüler:innen den Hof wechseln wollen, das sind aber die Ausnahmen».Besonders freut es die Französischlehrerin, wenn Schüler:innen auch mit schwierigen Umständen zurechtkommen. «Zwei Schüler hatten in diesem Jahr einen besonders anspruchsvollen Hof, der recht heruntergekommen war. Trotzdem haben sie durchgehalten». Hinterher hätten sie gesagt: «Im Nachhinein fühlte es sich dennoch cool an. Wir sind stolz, dass wir durchgehalten und es geschafft haben». Also standen sie jeden Morgen ganz selbstverständlich um sechs Uhr auf und packten mit an.
Verantwortung als Motivation
Das Gefühl, «etwas zu schaffen», hat sogar einen Schulverweigerer motiviert: «Vorher war er mutlos. Aber das Anpacken gab ihm einen unglaublichen Schub.», so Roy. Generell bedeutet es für die Schüler:innen viel, wenn sie erleben, dass sie eine Hilfe für die Landwirt:innen sind und sie Verantwortung übertragen bekommen. «Natürlich ist das von Kind zu Kind verschieden», meint die Lehrerin. «Manche verschlafen auch. Gerade beim Versorgen von Tieren, aber auch bei der gemeinsamen Arbeit auf dem Feld, geht das gar nicht.»
Nach einer Woche besucht Roys Kollegin Agnes Kuhs alle Schüler:innen auf den Höfen, schaut sich die Situation an und regelt bei Bedarf nach. Sie kann manche Hindernisse aus dem Weg schaffen. «Die meisten beißen sich aber wirklich allein durch. Und im Kuhstall oder auf dem Feld hat auch das Handy Sendepause.» Abends seien die Praktikant:innen sehr müde. «Oft schaffen sie es gerade noch, ihr Tagebuch zu führen, in dem sie die gemachten Erfahrungen aufschreiben.»
Sprachbarriere durchbrechen
Anstrengend ist für die 15- bis 16-Jährigen auch die Sprachbarriere: «Das Praktikum ist kein Sprachaufenthalt, sondern die fremde Sprache ist eine schöne Begleiterscheinung», schildert Roy das Konzept. Fast unbemerkt machen viele Schüler:innen trotzdem starke Fortschritte im Französischen. Nach ein paar Tagen wird ihnen bewusst: «Sie merken: Ich kann mich verständigen! Das ist ein weiteres Erfolgserlebnis». Dabei gilt nach Meinung der Lehrerin die Devise: «Je furchtloser ich bin, desto besser geht’s.» Manche sprechen nach ihrer Aussage zwei Wochen lang kein Wort, sondern kommunizieren lieber mit Zeichensprache. «Dann bricht der Damm. Und auch das führt zu einem echten, inneren Wandel.»
Freiheit ohne Eltern
Darüber hinaus nehmen alle etwas anderes für ihre individuelle Entwicklung mit. Laut Roy sind das häufig «Naturerlebnisse, die beseelen.» Das Essen sei häufig einfach – aber sehr gut. Ein weiterer Aspekt: Die meisten sind zum ersten Mal so lange Zeit ohne die Eltern unterwegs. Viele erleben das als Glück. «Zwei Jungs haben dann noch in einem Bauwagen geschlafen. Das war für sie fast grenzenlose Freiheit», beschreibt Roy. Bei Jungs seien Traktorfahrten häufig weitere Highlights. Mädchen schwärmen dagegen von der Geburt von Tieren und der Landschaft. Beeindruckt sind allen Schüler:innen von den vielen Wochenmärkten mit riesigem Angebot in idyllischer Umgebung. «Kommen sie voll von diesen neuen Eindrücken, Fähigkeiten und dem Gefühl nach Hause, das alles allein geschafft zu haben, entsteht ein völlig neues Selbstbewusstsein». Laut Roy lässt sich dieses neue Lebensgefühl mit einem Satz zusammenfassen: «Jetzt kann mich nichts mehr umhauen!»
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