Ausgabe 05/25

Vom Bleiben und Gehen

Sibylle Stier


Echte Begegnung wird nur durch gegenseitiges Interesse, Respekt und Neugier möglich. In Tunesien begegneten sich Menschen aus diametralen Lebensformen mit dem Bedürfnis, sich auszutauschen, aufeinander zuzugehen und gemeinsam etwas zu erschaffen. So entstand in diesem intensiven Miteinander ein Tanztheaterprojekt. Vor dem Hintergrund gegensätzlicher Ausgangssituationen kam es zu einer besonderen Begegnung, begleitet vom Community-Dancer Josef Eder und mir. Beim Community-Dance kommt es weniger auf technische Perfektion, als auf Ausdruck, Kreativität und dem sozialen Miteinander an. Nach zehn intensiven Tagen in Tunesien kehrten die Schüler:innen nach Deutschland zurück und verarbeiteten ihre Erlebnisse in dem Theaterstück NiemandsLand – Warten. Grundlage dieses Stücks waren die internationalen Menschenrechte, auf denen die einzelnen Szenen aufbauten. Im März 2023 berichtete die Erziehungskunst bereits über dieses Tanztheaterprojekt. Nun ist der dazugehörige Dokumentarfilm erschienen.

Der Dokumentarfilm Vom Bleiben und Gehen – eine Begegnung zweier Welten ist nun fertiggestellt. Einfühlsam zeigt er, wie sich jede:r der Teilnehmenden auf diese außergewöhnliche Begegnung einlässt, wie Gefühle von Empörung, Nachdenklichkeit, Hilflosigkeit, aber auch Unbeschwertheit und Nähe entstehen, wie in abendlichen Gesprächen die Sehnsüchte der Menschen auf der Flucht und die Fassungslosigkeit der deutschen Jugendlichen aufeinandertreffen und Teil des kreativen Prozesses werden. Er hält fest, wie auch nach der Rückkehr der Jugendlichen die Eindrücke und Erlebnisse in Deutschland weiterhin präsent sind, wie eigene Lebenseinstellungen und Werte neu betrachtet werden und wie die Auseinandersetzung mit diesem Thema durch die Begegnung mit den anderen Menschen prägend auf die eigene Biografie einwirkt. Der Film enthält Interviews mit den Teilnehmer:innen aus Nigeria, dem Kongo und Kamerun. Sie berichten von ihrer Flucht und den unmenschlichen Bedingungen, denen sie in Tunesien unter einer korrupten Regierung ausgesetzt sind – Schicksale, die in den Medien kaum Beachtung finden und die Zuhörenden sprachlos machen. Ihre Worte hinterlassen einen tiefen Eindruck. Zugleich hält der Film auch stille Momente fest, in denen jede:r mit sich selbst beschäftigt ist – Momente, in denen eine unausgesprochene Tiefe der Begegnung spürbar wird.

Diese Erfahrung bestätigt, was der Neurobiologe Gerald Hüther beschreibt: «Aber etwas erkannt zu haben, heißt nicht, dass es uns auch wirklich berührt. Und wenn es uns nicht berührt, ändert sich auch nichts im Hirn. Ganz anders ist es, sobald wir etwas nicht nur wissen oder erkennen, sondern wirklich zu verstehen beginnen. Dann dringt dieses neu gewonnene Verständnis in alle Fasern unseres Seins. Es geht unter die Haut, macht uns wach und berührt uns, weil es mit einer Aktivierung der emotionalen Bereiche in unserem Gehirn einhergeht.»

Der Film ist seit März 2025 auf DVD im Info3-Shop erhältlich und wird in ausgewählten Kinos gezeigt. Wir sind überzeugt, dass er für viele Waldorfschulen von Interesse sein könnte, da er zeigt, welche außergewöhnlichen Projekte im Rahmen der Schulbildung möglich sind. Besonders spannend ist zu beobachten, wie die Schüler:innen durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema wachsen und sich weiterentwickeln.

Die Dokumentation verdeutlicht, dass nur durch persönliche Begegnungen ein echtes Miteinander auf Augenhöhe möglich ist, dass nur durch persönliche Begegnungen Ängste ausgelöscht werden, weil man eben eine echte Begegnung erlebt, die dem allgemeinen oberflächlichen Getöse standhalten kann und die notwendig ist, um sich selbst eine stabile Basis zu erringen. Durch Begegnungen und einen daraus entstehenden, wie auch immer gearteten, künstlerischen Prozess werden wir auf einer tieferen Ebene berührt. Eine solche emotionale Berührung kann einen inneren Kompass formen, der uns eine geistige Unabhängigkeit ermöglicht.

Manuel Linke und ich sind gerne bereit, den Film an Schulen zu präsentieren und anschließend mit Schüler:innen über den Film zu sprechen.

Kontakt und weitere Infos zum Film: Manuel Linke: info@manuel-linke.de
manuel-linke.de/work/vom-bleiben-und-gehen

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