Ein grau-verhangener Himmel oben, eine hügelige, weite Landschaft unten und dazwischen angesagte, bunte Sneaker zuhauf. Noch ein bisschen orientierungslos stapfen fast 30 Zehntklässler:innen der Freien Waldorfschule Schopfheim durch das Krebsbachtal – einem Flecken Natur, der in Fahrradentfernung zur Schule liegt. Zwölf Tage werden sie hier verbringen und erfassen, wo eine Wiese an ein Waldstück grenzt, wo Wege die Landschaft durchziehen und wo ein Bach, der vielleicht parallel dazu verläuft, einen Knick macht, versandet oder in einen anderen Bach mündet – all das zentimetergenau. Sie sind gekommen, um das sogenannte Feldmesspraktikum zu absolvieren, das noch immer ein Alleinstellungmerkmal der Waldorfschulen ist.
Heute, an Tag eins, machen sie lediglich einen Spaziergang in der Gegend, die sie in den nächsten Tagen im Detail erkunden werden. Dabei haben sie zunächst Zeichenpapier, Bleistifte und einen Kompass. Aber auch das wird sich ändern. In der Unterkunft stehen schon Theodolite, Fünf-Meter-Latten und Nivelliergeräte bereit. Mit diesen und weiteren Hilfsmitteln aus der professionellen Vermessungstechnik werden die Schüler:innen in den kommenden Tagen in Kleingruppen im Krebsbachtal unterwegs sein.
Für Christian Boettger, der seit fast 40 Jahren Feldmesspraktika vorbereitet, durchführt und evaluiert, liegen einige Argumente für das Feldmesspraktikum offen auf der Hand. Andere sind eher hintergründig gelagert und müssen ausgeleuchtet werden, sind deshalb aber nicht weniger bedeutsam. «Ein klarer Nutzen des Feldmessens liegt natürlich in der praktischen, handwerklichen Anwendung der Mathematik, aber auch der Geographie, und im Umgang mit den optischen Präzisionsgeräten. Die Trigonometrie wird plötzlich erlebbar und sinnhaft und technische Wunderdinge wie der Theodolit werden durchschaubar», führt er aus. Wie nebenbei berühren die Jugendlichen mit dem Feldmessen aber auch ein uraltes und zugleich vollkommen aktuelles Menschheitsthema. «Die Tätigkeit, Land zu vermessen, enthält immer auch die Geste, sich die Welt zu eigen zu machen, sie zu begreifen und zu handhaben. Damit verbunden sind unweigerlich Fragen nach Besitz, Verteilung und Macht. Das macht das Feldmessen auch zu einem sozialen Thema», führt Boettger aus. Es gehe nicht unbedingt darum, diese komplexen Fragen vollständig zu beantworten, aber sie ins Bewusstsein zu heben, sei ein wichtiger Schritt.
Ein Entwicklungsschritt, der laut Boettger bei Jugendlichen um das 16. Lebensjahr herum ansteht, ist das Ausbilden einer möglichst objektiven Perspektive auf die Welt, um zu einem Wahrheits- und Wirklichkeitsempfinden zu kommen. «Von Natur aus nehmen wir erst einmal einen subjektiven Standpunkt ein, der unsere persönliche Sicht auf die Welt widerspiegelt. Von diesem Standpunkt aus in die Vogelperspektive zu wechseln, sich einen Überblick über das große Ganze zu verschaffen, das fordert das Feldmessen. Solch ein Prozess wirkt ausgleichend auf den ganzen Menschen, bringt ihn ins Gleichgewicht und in die Aufrichte, ja in die Aufrichtigkeit», erklärt Boettger die innenliegenden Prozesse, die während des Feldmessens angeregt werden. Der Schritt von der flüchtigen Wahrnehmung zum gründlichen Hinschauen sei eine erste Form der Wissenschaftlichkeit, die unser Urteilsvermögen schärft, so Boettger. Dafür stehen am Ende die selbstgezeichneten, maßstabsgetreuen Landkarten, die alle Schüler:innen von dem vermessenen Gebiet anfertigen. Beachtenswert findet Boettger, dass diese zwar vorgegebenen Kriterien folgen müssen, aber dennoch ganz individuell aussehen. Regelkonformität und Individualismus scheinen einander also nicht auszuschließen!
Jedes Jahr wird aufs Neue die Frage nach dem Ort, wo das Praktikum stattfinden soll, diskutiert. Findet es in der näheren Umgebung statt, sodass die Klassengemeinschaft jeden Tag erneut von zu Hause aus dorthin aufbricht, oder fahren alle zusammen für mindestens zehn Tage weg? Boettger plädiert ganz klar für Letzteres. «Ununterbrochen vor Ort zu sein, das schafft einen stärkeren Bezug zur Landschaft. Und nicht jeden Tag neu in den Prozess einsteigen zu müssen, erleichtert es, den Fokus zu halten», erläutert er. Nicht zuletzt sei so ein Feldmesspraktikum in der Ferne auch ein gemeinschaftsstiftendes Ereignis für die Klasse – mit Matschfüßen an Regentagen, dem Duft der Feldküche unter freiem Himmel und so mancher Siesta abseits der Wege. Einige Male hat Boettger erlebt, dass Schüler:innen das Feldmesspraktikum derart begeistert hat, dass sie Beruf und Berufung in der Vermessungstechnik gefunden haben. Einer von ihnen hat Boettger und sein Team unlängst sogar beim Durchführen eines Praktikums unterstützt und den Schüler:innen den Umgang mit den Geräten gezeigt. «Das ist es doch, was wir mit der Waldorfpädagogik möchten – junge Menschen dabei unterstützen, ihren Platz und ihre Aufgabe im Leben zu finden. Die Vermessungstechnik ist nur eine von tausenden Möglichkeiten. Gefragt sind Naturverbundenheit, handwerkliches Geschick, aber auch Kreativität und Improvisationsvermögen, denn jedes Gelände birgt neue Unwägbarkeiten», fasst Boettger zusammen. Die Schüler:innen entwickeln also viele wichtige Eigenschaften, die sie nicht benötigt hätten, hätte einfach jemand eine Drohne über das Gelände fliegen lassen.
Ausgabe 07-08/24
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.