Ausgabe 07/08/25

Vom Labor ins Klassenzimmer

Anne Brockmann


Chudobová stammt aus Tschechien und hat in Prag studiert. Von dort ist sie 1996 nach Deutschland gekommen. «Eigentlich wollte ich nur zwei Jahre bleiben, inzwischen sind es fast 30», resümiert sie mit einem Lächeln. Bevor sie vor sechs Jahren als Quereinsteigerin an die Waldorfschule kam, hat Chudobová zwölf Jahre lang in einem Labor für die Fraunhofer-Gesellschaft gearbeitet. Sie hatte sich auf die sogenannte Massenspektrometrie spezialisiert. «Das bedeutet, dass ich mit einer riesengroßen Maschine winzig kleine Proben analysiert habe, Proteine, um genau zu sein», erklärt sie. Proteine seien für sie eine echte Herzensangelegenheit. «Wenn die DNA der Code unseres Seins, unserer Existenz ist, dann sind die Proteine ihre Verwirklicher. Sie tragen all die Informationen in die Zellen weiter, damit sie zum Leben erwachen», erläutert Chudobová begeistert. Mit ihrer Leidenschaft für Proteine ist sie anschlussfähig für die Schüler:innen – dreht sich in der Ernährung junger Menschen doch längst Vieles um Protein-Shakes, -Riegel, -Puddings und dergleichen. «Im Labor konnte ich zum Beispiel an einem Sensor arbeiten, der versucht hat, den Frischezustand eines Stückchens Fleisch zu bestimmen, und der dem Geheimnis veganer Fleischalternativen auf der Spur war», erzählt Chudobová.

Bestätigung jenseits der Worte


Unternehmensbedingte Veränderungen haben 2019 allerdings dazu geführt, dass Chudobová nach einer neuen beruflichen Perspektive für sich geschaut hat. Waldorfpädagogik und Anthroposophie waren ihr bis dahin wieder und wieder «zufällig» im Leben begegnet. «In Aachen sind wir in eine Wohnung gezogen, wo unsere Nachbarn einen waldorfpädagogischen Hintergrund hatten. So haben wir durch den Kontakt zu ihnen eine ganz neue Welt betreten», erzählt Chudobová. Als Lehrerin in einer Waldorfschule zu arbeiten, schien ihr zunächst trotzdem abwegig. «Ich habe mir einfach nicht vorstellen können, vor eine Klasse zu treten – in meinem Alter, mit meinem Akzent, mit meiner Art, erinnert sie sich. Dabei hatte sie in früheren Jahren, während ihrer Zeit an der Uni und bei der Fraunhofer-Gesellschaft, schon viel mit Studierenden gearbeitet. Die hatten ihr Studienfach im Gegensatz zu den Schüler:innen aber selbst gewählt – und also, fand Chudobová, sei das etwas anderes. Ermutigt durch Freunde wollte sie ihn aber wenigstens mal ausprobieren, den Lehrer:innen-Beruf. Nur kurze Zeit später stellte sie im Rahmen einer Hospitation ein selbst gewähltes Thema vor. Und schon am Ende dieses Hospitationstages war Chudobová sicher: «Es geht. Ich kann Lehrerin sein.» Es war die Resonanz zwischen ihr und den Schüler:innen, die ihr Gewissheit gegeben hat. «Eine Bestätigung jenseits der Worte» nennt Chudobová das. «Ich war nervös, aber auch begeistert von dem, was ich vermitteln wollte. An der Mimik, an der Körperhaltung und an den Fragen, die die Schüler:innen gestellt haben, habe ich gemerkt, dass die Ideen, die ich geteilt habe, bei ihnen angekommen sind», schaut sie zurück.

An konträren Meinungen gewachsen


Mit ihrem Diplom aus Prag hätte sie von Seiten des Regierungspräsidiums in Nordrhein-Westfalen aus direkt unterrichten können. Chudobová wollte aber tief eintauchen in die Waldorfpädagogik mit ihrer Methodik und Didaktik. Deshalb hat sie zwei Jahre lang das Lehrerseminar in Kassel besucht – berufsbegleitend. In zwei bis drei Blöcken pro Jahr mit einer Dauer von jeweils drei Wochen hat sie sich die Grundlagen erarbeitet, lebendige Diskussionen geführt und auch Eurythmie, Sprachgestaltung und das künstlerische Gestalten kennengelernt. Gern denkt Chudobová an ihre Seminarzeit zurück: «Wir waren eine kleine Gruppe, in der schnell großes Vertrauen zueinander gewachsen ist. Noch heute stehen wir im Kontakt miteinander.» Die Art und Weise, wie in Kassel Anthroposophie vermittelt und gelebt wurde, empfand Chudobová als «modern, offen und kritisch». «Wir haben es geschafft, auch völlig konträre Meinungen nebeneinander stehen zu lassen und gegenseitig daran zu wachsen», sagt sie. Natur- und Geisteswissenschaft empfindet die studierte Biotechnologin keineswegs als Widerspruch. «Für mein Empfinden ergibt sich erst durch das Verbinden beider die Möglichkeit, Phänomene wirklich in der Tiefe zu erfassen. Wir haben weiterhin unzählige offene Fragen, auf die wir bisher keine eindeutigen Antworten haben», sagt sie.

MINT-Fächer groß machen


Am Umgang mit den Naturwissenschaften schätzt sie in der Waldorfpädagogik besonders den phänomenologischen Ansatz: «Ich finde es so viel eindrücklicher und deshalb nachhaltiger, nicht einfach das Periodensystem der Elemente auswendig zu lernen, sondern zunächst einmal zu schauen, was alles um mich herum los ist, was mich umgibt. Mit diesem komplexen, weiten Blick kann ich dann zu konkreten Fragen kommen.» Eingeprägt hat sich bei Chudobová der Satz eines Zehntklässlers, der auf den Punkt bringt, wie sehr Lernen und Leben einander durchdringen können. Der Schüler hatte zunächst gesagt, dass Chemie ihn «null interessiert», kam später aber selber zu dem Schluss: «Krass! Eigentlich ist doch alles um uns herum Chemie.» Es sind solche Momente, die Chudobová darin bestätigen, dass die Entscheidung richtig war, mit fast 50 Jahren einen neuen Beruf zu wählen – und zwar ausgerechnet einen, von dem sie erst einmal glaubte, er würde nicht zu ihr passen. Sie möchte ihre Schüler:innen dazu bewegen, nicht einfach nachzumachen, sondern «selbst ihr Gehirn einzuschalten». Chudobová erinnert sich daran, wie schmerzvoll es für sie selbst gewesen ist, wenn sie Dinge in der Schule einfach reproduzieren sollte, ohne sie verstanden zu haben.

Bedauerlich findet sie, dass trotz der tollen Herangehensweisen die MINT-Fächer an Waldorfschulen ihrem Eindruck nach eher weniger Aufmerksamkeit bekommen.. «Mit diesem Anliegen bin ich eigentlich auch in die Schule gekommen. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass MINT-Fächer eine größere Bedeutung haben, mehr Anerkennung bekommen und moderner werden. Wir müssen Ökologie und Naturschutz intensiver in den Blick nehmen und sinnvoll digitale Werkzeuge benutzen. Aber es ist wie bei so vielen Idealen: Ihre Kraft wird vom Engagement für andere schulische Anliegen geschluckt. Unser Gespräch gerade jetzt ist eine schöne Erinnerung an meinen Impuls», sagt Chudobová. Sie hat den Eindruck, dass auch die Schüler:innen vom naturwissenschaftlichen Unterricht mehr wollen. Überzeugungsarbeit müsste eher im Kollegium geleistet werden. «Um wirklich gut auf einen beruflichen Werdegang im MINT-Bereich vorbereitet zu sein, haben die Schüler:innen schlicht zu wenig Unterricht. Da entsteht dann schnell eine Konkurrenz zu anderen Fächern.» Andererseits hat Chudobová schon öfter erlebt, wie Schüler:innen sich mit rasanter Geschwindigkeit Kenntnisse und Fertigkeiten selbst aneignen, wenn sie dafür brennen. Echtes Interesse würde manchmal Unglaubliches möglich machen, sagt sie.

Für sie sind Naturwissenschaften kein bisschen abstrakt. Sie haben immer mit ihr und ihrer Welt zu tun. Wenn sie mit ihren Schüler:innen ins Labor geht, dann, um «Ideen in den Händen zu halten.» 

Falls Ihnen Ivana Chudobová bekannt vorkommt: Sie ist Teil der Kampagne Jede Stunde zählt des Bundes der Freien Waldorfschulen, mit dem interessierte Menschen auf den Beruf Waldorflehrer:in aufgemerksam gemacht werden.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.