Ausgabe 05/24

Vom Strandkiosk in den Musiksaal der Waldorfschule

Jürgen Beckmerhagen

Im Jahr 2008 stand Vaz mit 16 Jahren kurz vor dem Ende seiner Schulzeit –
mit der Aussicht auf eine Zukunft mit einfachen Jobs in Supermärkten und Kiosken. Für solche Tätigkeiten benötigte er kein Abitur. Ziellosigkeit und Desinteresse prägten seine Tage. Der Strand von Mosqueiro, nur einen Breitengrad südlich vom Äquator, bot ihm eine Art tröstliche Gleichgültigkeit angesichts der ausweglosen Situation, in der er und andere Jugendliche dort lebten – eine Hoffnungslosigkeit, die scheinbar niemand zu durchbrechen vermochte.

In jener Zeit initiierte Vaz’ Kirchengemeinde ein musikalisches Projekt, eine Banda de Música. Sie trug mit traditionellen Liedern und Gospel bei Gottesdiensten, Prozessionen und Gemeindefesten zur Stimmung bei. «Ich war fest entschlossen, Teil dieser Gruppe zu werden. Die einzige Vakanz war für Posaune – ein Instrument, das mir völlig unbekannt war», erzählt Vaz. «Der Dirigent brachte uns Noten bei, aber das eigentliche Posaunenspiel lernte ich von einem Bäcker, der ebenfalls in der Kapelle spielte. Während er Brötchen gebacken hat, unterwies er mich. Als Belohnung für das Üben gab es stets ein Schokobrötchen.»

Mit 17 Jahren verließ Vaz die Schule, besuchte die Musikschule in Belém und finanzierte sich durch Gelegenheitsjobs. «Ich lernte, dass man mit Musik Geld verdienen kann – als Lehrer, in Bands oder in einer Militärkapelle. Aber zuerst ging es mir nicht ums Geldverdienen. Musik hat mir neue Perspektiven und Hoffnungen eröffnet, zeigte mir, dass ich nicht immer in Mosqueiro im Supermarkt arbeiten muss. Deshalb entschied ich mich mit 20 für das Abitur, das man in Brasilien jederzeit nachholen kann. Ich bestand es beim ersten Versuch», erzählt Vaz. Elienay Carvalho, sein erster Posaunenlehrer, riet ihm zur Bewerbung am angesehenen Musikkonservatorium Carlos Gomes in Belém. Er bestand die Auswahlprüfung und wurde angenommen.

Vaz wurde der erste Posaunenschüler von Manassés Malcher. «Manassés vermittelte uns, dass das Posaunenspiel mehr ist als Technik. Er zeigte uns, wie Musik unser Leben bereichert. Er sprach oft von der Folkwang Universität, die auch ich später besuchte. Musik hatte sein Leben verändert, ihm neue Perspektiven gegeben. Er wollte uns lehren, dass Musik nicht nur ein Beruf ist, sondern auch unsere Persönlichkeit formt und unser Verständnis für andere Menschen vertieft», erinnert sich Vaz.

«Wir waren drei oder vier Schüler:innen in Manassés Posaunenklasse. Er wollte von Anfang an, dass wir dranbleiben. ‚Wir müssen das vier Jahre zusammen durchziehen‘, sagte er. Er erzählte von seinen eigenen Erfolgen und motivierte uns, gemeinsam zu arbeiten, vielleicht sogar für einen Master in Deutschland.» Am 21. Dezember 2015 spielte Vaz seinen Abschluss in Belém und am 18. Januar 2016 bestand er die Aufnahmeprüfung an der Folkwang Universität in Essen.

«Es ist faszinierend, in Deutschland Werke von Beethoven, Mahler, Bruckner oder Wagner zu spielen. Ich wollte immer verstehen, warum man hier eine bestimmte Dynamik einhält, warum es über das bloße Nachspielen hinausgeht. Dieses Verstehen suchte ich, deshalb wollte ich nach Deutschland.»

Während seines Masterstudiums an der Folkwang Universität lernte David Vaz Menschen kennen, die an der Waldorfschule arbeiteten und ihm die besondere Rolle der Kunst in der Pädagogik nahebrachten. Diese Begegnungen hinterließ einen bleibenden Eindruck bei ihm. Anschließend absolvierte er ein Praktikum im Sinfonieorchester Wuppertal, eine Erfahrung, die seinen musikalischen Horizont erweiterte. Als die Corona-Pandemie 2020 die Konzertsäle schloss, unterrichtete Vaz über Videokonferenzen Musikschüler:innen. Diese Erfahrung führte ihn zu einer Vertretungslehrer:innenstelle an einer Grundschule in Oberhausen, wo er seine Begeisterung für die Arbeit mit Kindern entdeckte.

Im August 2023 ergriff er die Chance, an der Krefelder Waldorfschule in der Mittel- und Oberstufe Musik zu unterrichten. Er übernahm die Leitung von zwei Chören, die in Konzerten auftreten und eine wichtige Botschaft vermitteln: «Musik ist ein kraftvolles Medium, um Gefühle auszudrücken und Beziehungen aufzubauen.» Gegenüber den Kindern betont Vaz stets, dass es wundervoll sei, ein Lied zu singen, doch das Verständnis für den Hintergrund – die Gründe des Dichters oder Komponisten für die Wahl ihrer Melodien und Texte – gäbe dem Ganzen erst seine tiefe Bedeutung. In jeder Musikrichtung gehe es um Beziehungen, um die Verbindung zwischen Musiker:innen und Zuhörer:innen. Für Vaz ist Musik «viel mehr als bloße Unterhaltung. Sie ist eine Brücke zwischen Menschen».

In der schulischen Arbeit hat Vaz schließlich gefunden, wonach er gesucht hatte, und zwar den persönlichen Kontakt über die Musik: «Der direkte Kontakt mit den Schüler:innen, ihr unmittelbares Feedback, ihre Entwicklung durch die Musik zu beobachten, das erfüllt mich mit Freude.» Vaz' musikalische Odyssee, die an den Stränden der Ilha do Mosqueiro begann, fand in den Klängen von «Manhã de Carnaval» ein Echo – ein Lied, das die Freude des Lebens mit seiner unvermeidlichen Vergänglichkeit verbindet. Seine Reise, die ihn von Brasilien nach Deutschland führte, spiegelt die Botschaft dieses Liedes wider: das Erkennen und Wertschätzen der flüchtigen Momente des Glücks, die Musik in uns erwecken kann.

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