Ausgabe 12/24

Vom theoretischen Schulstoff zum lebendigen Vorbild

Anne Brockmann

Wenn Elouise Hipp sich daran erinnert, was sie empfunden hat, als sie zum ersten Mal von Anna Pröll gehört hat, steht ihr die Begeisterung ins Gesicht geschrieben. «Ein Mädchen, fast in meinem Alter, das so viel Schreckliches erlebt, aber nie aufgehört hat, für seine Sache zu kämpfen – das ist Wahnsinn. Ich bewundere Anna wirklich sehr.»

Ihr neuntes Schuljahr war gerade erst ein paar Wochen alt, als Elouise und ihre Klassenkamerad:innen von ihren Lehrerinnen Karoline Kopp und Renate Föll in die Biografiearbeit eingeführt wurden und schon bald vor der Frage standen, mit welchem Menschen sie sich mehrere Monate lang intensiv beschäftigen möchten. «Bei mir kamen da mehrere Punkte zusammen», erinnert sich Elouise. Zum einen sei es so, dass sie sich seit dem Erstarken der AfD grundsätzlich mit den Themen Nationalsozialismus und Rechtsextremismus beschäftigt habe, weil sie sich um die Zukunft der Demokratie in Deutschland sorgt. Zum anderen hätte sie in der Zeitung Die Zeit von der ErinnerungsWerkstatt Augsburg gelesen. Die ErinnerungsWerkstatt hat das Ziel, die Biografien von kaum bekannten Opfern des Nationalsozialismus zu erforschen und die Erinnerung an sie wach zu halten. «Der Zeitungsartikel erzählte von einem Rabbiner, der viele Jahre davon ausgegangen war, dass seine Mutter in einem Viehwagon ums Leben kam und nie bestattet wurde. Das belastete ihn, weil Tote nach jüdischem Brauch innerhalb von 24 Stunden begraben werden müssen. Durch die ErinnerungsWerkstatt erfuhr er, dass seine Mutter in Augsburg begraben liegt», erzählt Elouise, die ihre erste Konfrontation mit dem Nationalsozialismus schon in der zweiten Klasse erlebte. Das ist die dritte Begebenheit, die sie zu ihrem Thema führte. «Als ich in die zweite Klasse ging, haben wir in Amsterdam gewohnt. In dieser Zeit haben wir in der Schule auch den Nationalsozialismus behandelt. Das endete damit, dass meine Mitschüler:innen mich beschimpften und sagten, ich sei schuld am Zweiten Weltkrieg, weil ich Deutsche bin.» Von da an hat sie sich für die Geschichte ihrer eigenen Familie, für die Haltung ihrer Vorfahren während des Krieges interessiert und von ihren Eltern erfahren, dass ihre Urgroßeltern durchaus Widerstand geleistet haben, indem sie sich aus ihrem christlichen Glauben heraus einigen Anweisungen der NSDAP widersetzt haben. Genau wie Anna Pröll.

Für die hat Elouise sich schließlich entschieden, nachdem sie Kontakt zur ErinnerungsWerkstatt aufgenommen und sich nach möglichen Personen erkundigt hatte. «Als Wolfgang Poeppel von der ErinnerungsWerkstatt mir in einer Kurzfassung Annas Leben erzählt hat, war mir sofort klar, über diese Frau will ich schreiben.» In der Einleitung ihrer Arbeit schreibt Elouise über Anna Pröll: «Sie war eine Kommunistin im Widerstand gegen Adolf Hitler und den Faschismus. Sie kämpfte dafür, Menschen darauf aufmerksam zu machen, welch grausame Sachen Hitler eigentlich angerichtet hatte und welche Gefahr von ihm ausging. Sie versuchte, solche Gedanken, wie sie beispielsweise heute wieder von Björn Höcke und Marcel Grauf verbreitet werden, zu bekämpfen.» Einen vollständigen Überblick über das Leben von Anna Pröll zu bekommen, war für Elouise nicht leicht. Denn allzu viel Material gibt es nicht zu der weniger bekannten Widerstandskämpferin. Einen Eintrag auf Wikipedia, einen Dokumentarfilm und eine Handvoll weiterer Quellen, die sich zum Teil widersprechen, wie Elouise feststellte. Vorteilhaft war, dass sich der einstige Lebensmittelpunkt von Anna Pröll unweit von ihrem eigenen Zuhause befindet, von Landsberg nach Augsburg fährt man etwa eine halbe Autostunde. Elouise ist in die Nachbarstadt gefahren, hat das Geburtshaus und das Grab von Anna Pröll besucht. «An ihrem Geburtshaus hing viele Jahre eine Gedenktafel, die darauf hingewiesen hat, dass dort das Zuhause von Anna Pröll gewesen ist. Außerdem gab die Tafel ein Zitat von Anna wieder, das als ihr Lebensmotto betrachtet werden kann: «Ich möchte, dass die Kinder ohne Angst vor der Zukunft aufwachsen können. Nie mehr sollen Menschen Krieg oder Faschismus erleiden müssen.» Das Geburtshaus wurde eines Tages abgerissen und ein neues Haus wurde drauf gebaut. Die Besitzer des neuen Hauses weigern sich, die Tafel wieder aufzuhängen. Ich finde, das geht gar nicht. Wenn es mein Haus wäre, würde ich die Tafel mit Stolz anbringen», echauffiert sich Elouise.

Um in ihrer Recherche über Anna Pröll weiterzukommen, hat sie schließlich deren Sohn Josef getroffen und interviewt. Den Kontakt hatte die ErinnerungsWerkstatt für Elouise hergestellt. Josef Pröll ist Filmemacher und Fotograf und hat die Lebensgeschichte seiner Mutter in einer 80-minütigen Dokumentation mit dem Titel Anna, ich hab Angst um dich festgehalten. «Die Begegnung mit Josef Pröll war das Highlight in der ganzen Arbeitsphase für mich», sagt Elouise heute. Unmittelbar nach dem Treffen konnte sie allerdings stundenlang mit niemandem darüber reden, so berührt, so betroffen war sie von dem, was sie gehört hatte. Solche Momente habe es öfter gegeben, erzählt sie. Zum Beispiel als der Film zeigte, wie Anna als Jugendliche einmal mehr zu dem Gefängnis geht, in dem ihre Mutter inhaftiert ist, und an einer Mauer heraufruft: «Mama, wann kommst du wieder?» Nochmal und nochmal … Und auch ein Brief, den Anna an ihren Vater in Haft geschrieben hat, hat Elouise sehr bewegt. «Wenn ich an diesen Brief denke, bekomme ich jedes Mal Gänsehaut», sagt sie. Dass Anna in einem ganz ähnlichen Alter, wie Elouise es heute hat, alles verloren hat, ihre Eltern, ihr Zuhause, ihre Freiheit und dennoch niemals aufgegeben hat, das imponiert der Waldorfschülerin am meisten.

Wenn Annas Geschichte sie trotz aller Bewunderung zu sehr mitgenommen hat, hat Elouise eine Pause eingelegt. Und immer dann, wenn sie wieder zur Sprache gefunden hatte, hat sie sich mit ihren Eltern ausgetauscht. «Im Verlauf der Arbeit habe ich irgendwann gespürt, dass das Schreiben über Anna zu einer echten Aufgabe für mich geworden ist, die mir unheimlich wichtig ist. Die Menschen müssen Anna kennen lernen und ich muss dafür sorgen», beschreibt Elouise einen inneren Prozess. Und tatsächlich hat ihre 32-seitige Biografiearbeit über die Schule hinaus Anerkennung  gefunden. Die Präsentation der Arbeit vor der Klasse verfolgten auch Josef Pröll und seine Tochter. Ersterer hat im Anschluss darum gebeten, das Werk über seine Mutter in sein Archiv aufnehmen zu dürfen. Und auch die ErinnerungsWerkstatt möchte Elouises Arbeit verbreiten. Sowohl der vereinseigene Rundbrief als auch die Website weisen darauf hin. Dadurch wiederum ist ein Historiker auf die junge Landsbergerin als Verfasserin aufmerksam geworden. «Er bereitet gerade eine Ausstellung in Augsburg vor zu einem jüdischen Mädchen, das in jungen Jahren umgekommen ist, und hat mich gefragt, ob ich Interesse hätte, mich auch mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzten und eventuell Führungen in der Ausstellung zu geben. Wir treffen uns demnächst zu einer Besprechung», berichtet Elouise, die auch von sich sagt, sie sei durch die Biografiearbeit erwachsener geworden.

Ihr ist es ein Anliegen, dass die Aufklärung über den Nationalsozialismus in Schulen mehr Raum bekommt und lebendiger gestaltet wird. «Wir sollten nicht nur Zahlen und Fakten vermittelt bekommen, sondern wirklich etwas erleben – so wie ich in der Beschäftigung mit Anna. Workshops könnten da hilfreich sein und Gespräche mit Zeitzeugen oder deren Nachfahren», schlägt Elouise vor. Wichtig ist in ihren Augen auch, dass der Brückenschlag vollzogen wird von damals ins Heute, damit die Menschen verstehen, dass der Nationalsozialismus noch immer eine Bedrohung ist, die es zu bekämpfen gilt. Elouise selbst möchte auf jeden Fall dran bleiben an der Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit und könnte sich später auch einen Nebenjob in diesem Bereich vorstellen. Vorerst möchte sie schauen, ob sich in Sachen Gedenktafel am Ort der Geburt von Anna Pröll nicht doch noch etwas machen lässt …

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