Holger König | Herr von Grotthuss, ist die Gliederung der menschlichen Entwicklungsprozesse im Sieben-Jahres-Rhythmus von sieben, 14, 21 eine Idee Rudolf Steiners?
Till von Grotthuss | Ja sicher! Rudolf Steiner beschreibt die Entwicklungsschritte des Kindes, wie überhaupt den ganzen Lebensbogen des Menschen mit einem sehr dynamischen Sieben-Jahres-Rhythmus. Bei der Entwicklung vom Kleinkind zum jungen Erwachsenen, also von null bis 21 Jahren, kann man diese Etappen – wie das Steiner speziell für die Lehrer:innen vorgeschlagen hat – jeweils unter ein charakteristisches Motto stellen.
HK | Sie meinen, für jedes Jahrsiebt gibt es ein besonderes Thema?
TvG | Ja. Die ersten sieben Jahre sind geprägt durch die unbewusste, voraussetzungslose Annahme des Kindes, die Welt sei durch und durch gut. Die Kinder sehnen sich instinktiv nach einem guten, gerechten, friedlichen Ende aller Handlungen und Geschichten. «Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!»
HK | Die berühmte Märchenstimmung der ersten Klasse?
TvG | Genau! Was wir abgeklärten Erwachsenen vielleicht als realitätsfremd belächeln, ist für das Kind bis ungefähr zum siebten Lebensjahr ein notwendiges Lebenselixier. Wir müssen nur ein wenig in unserer eigenen Kindheit nachforschen. Aus der Erinnerung an Geschichten und beispielhafte Handlungen mit einem guten Ende – und mögen sie noch so dramatisch begonnen haben – schöpfen wir noch als Erwachsene eine gehörige Portion Lebenskraft. Und umgekehrt, da, wo vor unseren Kinderaugen das tief Moralische missachtet wurde, nicht gewinnen durfte, liegt auch für ein spätes Alter noch der Grund für existenzielle Verunsicherung und Mutlosigkeit. Es ist folglich eine enorme Erziehungsaufgabe, die Welt so darzustellen und in Ausschnitten zu zeigen, dass diese Annahme nicht zu früh erschüttert wird, dass das Kind diesen Glauben für eine gute Weile behalten darf.
HK | Wohl wissend, dass keine Phase absolut ist, sondern durch eine nächste Etappe abgelöst werden muss?
TvG | Selbstverständlich! Trotzdem möchte ich nochmals die Wichtigkeit dieser ersten Phase betonen. Die unbewusste Voraussetzung des Kindes, die Welt sei moralisch gut, geordnet, ausgewogen, sinnvoll, von einem Schöpfer bewusst gestaltet, zeigt die Züge einer tief humanen Naturreligion. Sie kommt im dritten und vierten Lebensjahr – sobald das Kind selbst zu denken beginnt – zu einem Höhepunkt und zieht sich mit dem sechsten und siebten Jahr allmählich wieder in den Hintergrund zurück.
HK | Wie können Eltern und Lehrer:innen dieser Erwartungshaltung des Kindes begegnen?
TvG | Ich will exemplarisch antworten. Die Erzieherin, die etwa einer liegengebliebenen Schnecke vor den Augen der Kinder über die Straße hilft, weil sie sonst gänzlich vertrocknen würde, gibt ihren Schützlingen eine unausgesprochene, doch zutiefst befriedigende Sicherheit: Ja, die Welt ist manchmal grausam, aber egal, das Gute siegt. Ein Kommentar wie «Kinder, täglich sterben Millionen Schnecken auf der Straße, das ist einfach der Lauf der Dinge, daran können wir nichts ändern», wirkt dagegen wie ein Samenkorn der Resignation. Die Früchte davon spüren wir Erwachsenen in unserer Gegenwart täglich. Wer kennt nicht diese heimliche Genugtuung, die uns beschleicht, wenn wir mit unseren Fünf- bis Siebenjährigen beispielsweise ein Naturkundemuseum besuchen. «Da seht ihr mal, nix mit Märchenwald und sprechenden Tieren, nix mit Erlösung des verzauberten Frosches und Bestrafung des bösen Wolfes!» Nein, Selektion und Vererbung, Anpassung und Artensterben, Fakten, Zahlen, einfache Schaubilder! – Wir haben das drängende, teilweise ja durchaus verständliche, die kindliche Entwicklung leider völlig missachtende Bedürfnis, unsere Kleinen am besten gleich auf den letzten Stand der Wissenschaft zu bringen. Das läuft ihnen doch nicht davon, das können sie später noch genügend vertiefen. Aber die dadurch zu früh zweckentfremdete Lebenskraft ist später nur – wenn überhaupt noch – mit den allergrößten Anstrengungen wiederherzustellen.
HK | Alles durchaus verständlich. Und trotzdem will ich eine Lanze für uns Erwachsene brechen. Agieren wir nicht instinktiv so, weil wir die Kinder nicht anlügen, vor schmerzlichen Illusionen bewahren wollen?
TvG | Ich weiß, das ist ein nicht unbedeutendes Dilemma! Aber es geht ja nicht darum, vor dem Kleinkind unhaltbare Behauptungen aufzustellen, alles sei gut, krumm sei gerade, gelb sei blau, kalt sei warm. Unsere moderne Umwelt ist tendenziell kinderfeindlich. Dort, wo wir können, müssen wir sie vor den Kindern wieder geradebiegen. Es ist einfach fundamental wichtig, was ich in Gegenwart von Kindern denke, wie ich über andere spreche, wie ich meine direkte Umwelt achte oder missachte. Erziehung bedeutet in diesem Kontext hartnäckige Selbsterziehung!
Der Umweltschutz ist inzwischen allen ein Begriff. Über seelischen Umweltschutz wird jedoch kaum nachgedacht. Wenn ich heutzutage Kinder in ihrer Entwicklung kräftigen will – um nichts anderes geht es hier –, muss ich tatsächlich zum seelischen Umweltschützer werden. Auch als Waldorflehrer weiß ich, was das bedeutet. Wir haben es ja in den ersten zwei Klassen mit den Ausläufern der ersten Phase zu tun. Ich bin ständig auf der Hut, schütze, bekräftige das eine und lenke von anderem ab, überspiele und reiße mich selbst am Riemen. Wir werden als Unterrichtende durchaus gefordert, doch weit mehr noch als schlichtende, heilende, beruhigende, vermittelnde Persönlichkeit. Humor und Fantasie werden dabei zu unverzichtbaren Helfern. Ohne diese beiden Fluchthelfer müsste man vor lauter Umweltschutz versauern. Damit ist auch keinem Kind geholfen.
HK | Und was überschreibt den zweiten Lebensabschnitt?
TvG | Nun geht es um die ebenfalls unbewusste, dämmernde Urannahme des Kindes, die Welt sei schön (und wo sie es nicht mehr ist, müsse sie wieder schön gemacht werden). Für Steiner entsteht Schönheit – sehr ähnlich wie bei Goethe – wenn bei einem sinnlich wahrnehmbaren Zustand der Natur oder eben bei einem menschlichen Kunstwerk durch das Wahrgenommene etwas an sich Unwahrnehmbares hindurchscheint. Wenn ich also in einem Text, in einem Gedicht oder in einer Romanstelle die äußere Wirklichkeit so beschreibe, sie so verdichte, dass zusätzlich noch etwas Tieferes, Wahreres, Unaussprechbares mitgeteilt werden kann, empfinden wir das als schön.
HK | Wenn das Ganze tatsächlich mehr ist als die Summe seiner Teile?
TvG | In der Tat! Ein Puzzle ist nicht deshalb schön, weil das Ganze aus lauter Puzzleteilen besteht. In diesem Sinne sind wir als Erzieher:innen aufgefordert, die äußere Welt für die sieben- bis 14-Jährigen ständig umzugestalten, neu zu komponieren. Es ist, als würden wir dabei die nackten Tatsachen einkleiden, als würden wir den Kindern die an sich raue Sprache der Natur übersetzen. Das Kind empfindet es als heilsam, wenn wir ihm helfen können, einen hässlichen Zustand in einen schönen zu überführen.
HK | Hässlich wäre in diesem Kontext …?
TvG | Alles, was von sich aus nicht über die Stufe der Wahrnehmung oder, besser gesagt, der Selbstdarstellung hinauskommt. Also muss alles, Natur, Umwelt, Gegenstände, irgendwie gestaltet, umgemodelt oder verziert werden. Steiner regt beispielweise an, die simplen Rechenaufgaben einer dritten Klasse nicht einfach in ihrer «nackten» Erscheinungsform an die Tafel zu schreiben, sondern auch daraus eine schöne Form zu machen. Durch so eine simple Anordnung an der Tafel drücke ich jetzt noch keine höheren, unaussprechlichen Rechengesetze aus, aber ich gehe dem Bedürfnis der Kinder nach, dem allzu sachlichen Aspekt der Rechnungen quasi als Entschädigung ein innerlich befriedigendes Gegengewicht zu geben. Den Dingen Leben einzuhauchen, ist nach rein ästhetischen Gesichtspunkten als schön zu bezeichnen. Ich gebe mich in diesem Fall nicht mit der bloßen Erscheinungsform zufrieden, sondern ich gebe etwas von mir dazu, ich ahme einen der ursprünglichsten Akte der Schöpfung nach.
HK | Also betreibt die Waldorfschule in den ersten Schuljahren hauptsächlich eine ästhetische Erziehung?
TvG | Durchaus! Es wäre höchstwahrscheinlich möglich – als Anregung für künftige Diplomarbeiten – allein aus dem erwähnten Schönheitsbegriff den kompletten Waldorf-Lehrplan der Unter- und Mittelstufe abzuleiten. Jedes Fach, jede Epoche, jedes Lehrbeispiel von Steiner. Sogar noch die Physik- und Chemie-Epochen in der siebten und achten Klasse. Das Experiment als Anleitung zum Staunen, der Versuch als (schöne) Offenbarung physikalischer Gesetze.
HK | Sehen Sie in diesen eindeutigen, fast ausschließlichen Ansätzen nicht auch Nachteile oder gar Gefahren innerhalb der Waldorfschule?
TvG | Natürlich! Gefahren haufenweis! Es gibt viele davon, mir ist aber an dieser Stelle wichtig, auf das dritte Motto zu verweisen: «Die Welt ist wahr!». In dieser Phase kommt ein radikaler Einschnitt, den man als Kollegium tragen und immer wieder neu gestalten muss. Tatsächlich gibt oder gab es leider auch Waldorfschulen, an denen Güte und Schönheit bis in die Oberstufe stark hineinwirkten, sodass die Wahrheit viel zu kurz kam. Ich würde mal so sagen: Wer als Schüler:in Güte und Schönheit zu Genüge erleben konnte, ist auch für die stärkste Wahrheit gewappnet.
Die wissenschaftliche Urteilsbildung, die jetzt gefördert wird, steht nicht im Gegensatz zu den vorherigen Phasen. Wenn es einer Schule gelingt, dass die reifen Oberstufenschüler:innen in ihrem Wahrheitsdrang auch dankbar auf frühere Stufen zurückblicken, ist ein hohes Ziel erreicht worden. Ganz real lesen die Schüler:innen das sicher auch von dem Kollegium ihrer eigenen Schule ab. Der Respekt, mit dem sich Unterstufenlehrkraft und Oberstufenkollegium begegnen, bedingt die Achtung, die ein junger Erwachsener vor seiner eigenen Kindheit entwickeln kann.
Ausgabe 09/23
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