Wenn wir von Liebe sprechen, so meinen wir damit unterschiedliche Erfahrungen. Das Wort Liebe kann sich auf das körperliche Begehren eines anderen Menschen beziehen oder aber eine innige geistige Qualität haben, bei der das Körperliche keine Rolle spielt. Die Liebe zwischen Eltern und Kindern, Erziehenden und ihren Zöglingen, die Zuneigung zwischen Freunden und Freundinnen, das spontane Erleben tiefer Seelenverwandtschaft und Vertrautheit – all dies sind Formen von Liebe, denen Sexualität fremd ist. Die alten Griechen haben diese verschiedenen Formen der Liebe noch mit unterschiedlichen Namen bezeichnet – eros, philia, Storge, die Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern, sowie agape. Jene bedingungslose göttliche Liebe nannten die Christen später ihr Ideal der christlichen Nächstenliebe. Sie waren auch der Überzeugung, dass die Erschaffung der Welt eine Liebestat Gottes war, der sich selbst hingegeben hat, damit Wasser, Erde, Pflanzen, Tiere und Menschen entstehen konnten.
Auch Rudolf Steiner war der Auffassung, dass die Schöpfung aus der Fülle der göttlichen Liebe hervorgegangen ist. Er sah in der Liebe die schöpferische Kraft schlechthin in der Welt und lehrte, dass die Liebesfähigkeit die kosmische Mission unseres Planeten Erde sei, die wir in all ihren unterschiedlichen Formen, von den niedrigsten bis zu den höchsten, zu entwickeln hätten. Auf originelle Weise ist seine Liebesphilosophie mit seiner Theorie des Erkennens verknüpft: Weil der göttliche Geist sich durch die Schöpfung in die Welt ergossen hat, lebt er in all ihren Erscheinungen, er belebt und erhält alles Sein auf der Erde. Im Erkennen verbinden wir uns mit dem göttlichen Sein – denn Denken, Erkennen bedeutet, den in den Dingen wirksamen Geist in unserem eigenen Geist zu erfassen. Weil es aber im Geistigen keine Trennung gibt, werden wir im Erkenntnisakt mit dem Geistigen eins, wir erfahren eine Art Kommunion mit dem in den Dingen wirksamen Geist, der uns als lebendiger Begriff intuitiv gegenwärtig ist.
Die Kraft, die im Denken und Erkennen wirkt, ist deshalb nach Steiner eine «Kraft der Liebe in geistiger Art». In Zeiten von digitaler Revolution und KI kann eine solche Auffassung zunächst befremdlich erscheinen, läuft sie doch dem gängigen Verständnis von Erkennen als mechanistischem Verknüpfungsvorgang von Informationseinheiten völlig zuwider. Künstliche Intelligenz beruht auf unseren intellektuellen Verstandeskräften, sie reproduziert die Fähigkeit des logischen Kombinierens abstrakter Begriffe und ist uns darin mittlerweile weit überlegen. Sie bleibt aber immer äußerlich, an der Oberfläche der Dinge. Das liebevolle Eintauchen in die Erscheinungen und das tiefe Erfassen des inneren Kerns der Dinge, die intime Begegnung mit dem Wesen des Anderen ist ihr verwehrt. Dies ist eine Form des Denkens, die das intellektuelle Verstandesdenken des Menschen übersteigt, das – wie die KI – an einen physischen Träger, das menschliche Gehirn gebunden ist.
Begegnung mit dem Urgrund des Seins
Wir sind es heute nicht gewohnt, Denken und Erkennen in einem spirituellen Sinne zu verstehen. In Meditationskursen wird gelehrt, dass wir das Denken loslassen, überwinden sollen – mindestens jedoch unsere Gedanken zu beobachten, wenn wir sie schon nicht gänzlich abschalten können.. Nur so können wir, so wird uns gesagt, zu innerem Frieden, zur verlorenen Einheit mit dem Sein zurückfinden. Die Philosophie der Freiheit, Steiners philosophisches Hauptwerk, umkreist im Gegenteil das Denken als die zentrale Fähigkeit im Menschen, die uns den Weg zu einem umfassenderen Bewusstsein weist. In ihm lebt, so Steiner, «die all-eine Kraft, die alles durchdringt». Wir können im Denken dem göttlichen Urgrund des Seins begegnen, der sich bei der Schöpfung aus Liebe in die Welt hinein ergossen hat. Um zu dieser Erfahrung zu gelangen, müssen wir allerdings einige Anstrengungen unternehmen. Denn wir müssen uns selbst im Prozess des lebendigen Denkens und Ideenschöpfens beobachten. Wir sind aber eher daran gewöhnt, bereits gefasste Begriffe schablonenhaft an die Dinge anzuheften, als diese zu uns sprechen zu lassen, sie uns ihr Geheimnis selbst erzählen zu lassen. Beim Erwachsenen bedarf es einer enormen Willensanstrengung, einen Gedanken lebendig und frisch wie ein Kind erstmals zu denken und dann in einem zweiten Schritt dieses unbefangene Drauflosdenken auch noch rückblickend zu betrachten. Und nicht nur das Denken und Erkennen, auch das moralische Handeln ist in der Philosophie der Freiheit auf das Prinzip der Liebe gebaut.
Im Gegensatz zu Kant, der einen strengen Pflichtbegriff in der Ethik vertrat und die Allgemeingültigkeit sittlicher Maximen forderte, spricht sich Steiner für eine individualistische Ethik aus, in der die Liebe zur Tat zum zentralen Prüfstein wird. Der Antrieb zu einer Handlung soll nicht von außen kommen – aus der religiösen Tradition oder von einer anerkannten Autorität –, auch nicht von innen durch das Gewissen oder eine innere Stimme, sondern aus der unmittelbar intuitiv gefassten Idee, die sich einer konkreten Situation gegenüber in einem besonderen Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt entzündet. Und Steiner ist davon überzeugt, dass eine Handlung immer zum Guten führt, wenn sie von Liebe getragen ist. Zum Bösen aber, wenn sie aus einem intellektuell gefassten Urteil hervorgeht. Denn das Verstandesdenken trennt uns von der Welt, ist mechanistisch, abstrakt, reproduzierbar. Das intuitive Denken aber beruht auf der Fähigkeit der Hingabe, des geduldigen Abwartens, des Hineinlauschens in eine Situation, aus der uns die Antwort entgegentönt. Moral ist also keine Kopfsache, sondern eine Herzensangelegenheit. Ebenso wie das Denken, das Steiner fordert, eng mit dem Herzen verbunden scheint: Wärme, Hingabe, Einklang mit der Welt, ein peripheres statt zentristisches Bewusstsein sind die Merkmale dieses Denkens.
Steiner versus Kant
«Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst», der du «ein Gesetz ausstellst, […] vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich insgeheim ihm entgegenwirken». Diese berühmten Worte aus Kants Kritik der praktischen Vernunft hat der junge Steiner scharf kritisiert und in Opposition dazu die Freiheit als «freundlichen, menschlichen Namen» positioniert. Die Freiheit zwinge uns keine Gesetze auf und erniedrige uns nicht zu Dienern, sondern warte geduldig ab, welches Gesetz die Liebe aufstellt. Ein Gefühl – die Liebe – wird hier zur Erkenntnisquelle und zum Garanten für ein gutes und menschenwürdiges Miteinander. Außerdem können moralische Gesetze nach Steiner nicht allgemeingültig sein, da sie schöpferische Angelegenheit des Einzelnen sind, der in jeder Situation neu aus Geistesgegenwart heraus die für ihn individuell gültige Handlungsmaxime intuitiv findet.
Zwei Merkmale also zeichnen die freie Handlung nach Steiner aus, die KI nicht besitzt. Allgemeingültige Handlungsmaximen können mechanisch reproduziert werden, moralische Imperative sind programmierbar, die Fähigkeit der liebevollen Zuwendung zu einer Situation und den daran beteiligten Lebewesen aber und das Schöpfen einer neuen moralischen Idee, die dieser besonderen Situation gegenüber angemessen ist, das vermag nur der Mensch zu leisten. So wirkt in der künstlichen Intelligenz das alte Verstandesdenken weiter, auf dem die Philosophen der Aufklärung ihre Universalethik aufgebaut haben. Das neue intuitive Denken aber, das von Goethe und den deutschen Idealisten begründet und von Steiner weiterentwickelt wurde, setzt auf die spezifisch menschliche Fähigkeit der Liebe, die nur aus Freiheit geschenkt werden kann. Dieses Denken, das «Kraft der Liebe in geistiger Art» ist, weist in die Zukunft und vermag allein, Neues in die Welt zu bringen.
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