Was in der Halle chaotisch wirkt, basiert tatsächlich auf Disziplin, Teamgeist und viel Übung. Die Proben münden in große Momente, wenn im Sommer das Zirkuszelt aufgebaut und das 40-jährige Bestehen gefeiert wird. Bis zu eintausend Zuschauer:innen werden dann nicht nur die Kunststücke bewundern, sondern auch das Engagement und die Freude der jungen Artist:innen. In den 1980er Jahren gründete Klassenlehrer Rudi Ballreich den Circus Calibastra. Er suchte nach Wegen, seine Klasse in Bewegung zu holen. Jonglage, Akrobatik, Clownerie und Einradfahren schienen ihm ideal. Was als Projekt für seine Schüler:innen begann, wurde später für weitere Klassen geöffnet und wuchs zu einer festen Institution heran.
Heute ist der Circus Calibastra ein eingetragener Verein mit über 170 aktiven Schüler:innen im Alter von 10 bis 18 Jahren. Seit der Gründung haben mehr als 2.000 Kinder und Jugendliche mitgewirkt. «Der Zirkus hat mein Leben verändert», sagt die 17-jährige Helena. «Früher war ich schüchtern. Heute stehe ich als Clown in der Manege und liebe es, Menschen zum Lachen zu bringen.» Das Ziel war und ist: Schüler:innen die Möglichkeit geben, ihre Talente zu entdecken. Ob als Artist:in, Clown, Musiker:in oder Organisator:in – alle finden ihre Rolle.
Menschenpyramiden werden aus Vertrauen gebaut
Die Proben finden meist in der Sporthalle der Schule statt. Hier jonglieren Schüler:innen mit Keulen, üben Pyramidenakrobatik und perfektionieren den Handstand. Manche entdecken ihre Leidenschaft für das Einradfahren, andere für das Seilspringen, wieder andere für das Vertikaltuch. «Es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn ein Trick endlich klappt», erzählt Palle, 17. «Manchmal dauert es Wochen, aber der Erfolg fühlt sich wie ein Sieg an.» Neben der Artistik entstehen hier auch die Geschichten, die später die Shows prägen. Besonders die Nightshow entwickeln die Schüler:innen überwiegend selbst. «Wir denken uns die Geschichte aus, kreieren die Szenen und wählen die Musik», erklärt Helena. «Das ist anstrengend, aber macht unheimlich viel Spaß.» Im letzten Jahr entführten die Schüler:innen die Zuschauer:innen in ein Versandhaus voller skurriler Überraschungen. „Wir waren eine Wohngemeinschaft von Clowns, die ihr langweiliges Leben satt hatten und nach Abwechslung suchten“, erinnert sich Helena. Die Lösung? Alles bestellen, was das Herz begehrt. Pakete mit akrobatischen Nummern und Jonglagekünsten wurden geliefert, um die Bewohner:innen zu unterhalten. «Irgendwann arbeiteten wir selbst im Versandhaus und sortierten Pakete am Fließband», erzählt Palle. «Das war chaotisch, aber lustig – bis das System am Ende zusammenbrach.»
«Wir haben nicht nur gespielt, sondern auch die Übergänge zwischen den Nummern gestaltet», erklärt Helena. Die Sporthalle ist ein Trainingsraum, aber auch der Ort, an dem Gemeinschaft und Selbstbewusstsein wachsen. «Hier lernen wir, aufeinander zu achten», sagt Palle. «Beim Bau einer Menschenpyramide musst du deinen Partnern vertrauen, sonst funktioniert nichts.» Die Arbeit im Zirkus bringt Erfolgsmomente und Herausforderungen. Ein Schüler erinnert sich: «Ich habe mich nie getraut, auf etwas zu klettern. Aber die Trainer machten mir Mut und jetzt begeistert mich die Luftakrobatik.» Heute trainiert er andere Schüler:innen am Trapez – eine Entwicklung, die ihn stolz macht.
Lehrreiche ehrliche Reaktionen
Auch Helena hat eine besondere Geschichte. Früher traute sie sich kaum, laut zu sprechen. Doch als Clown lernte sie, auf der Bühne zu improvisieren und ihre Unsicherheit abzulegen. «Heute fällt mir das freie Reden leicht, egal ob vor Mitschülern oder Fremden.»
Palle erzählt von einer besonderen Aufführung: «Mein Lieblingspublikum sind die Kinder und Erwachsenen mit geistiger Behinderung, die jedes Jahr zu unserer Kindermatinée kommen. Sie sind so ehrlich in ihrer Reaktion. Wenn sie etwas lustig finden, lachen sie laut – und wenn nicht, zeigen sie es genauso deutlich. Das ist eine völlig andere Art von Feedback als bei anderen Vorstellungen. Das macht die Aufführung für uns so wertvoll und lehrreich.»
Eine Ehemaligenshow zum Jubiläum
Im Juli wird das Zirkuszelt zum Zentrum des Geschehens. Zwei Wochen lang finden intensive Proben und zehn Aufführungen statt. Jedes Jahr entstehen drei Programme: eine Kindermatinée, eine Hauptshow und die experimentelle Nightshow. Zum 40-jährigen Bestehen gibt es 2025 zusätzlich eine Ehemaligenshow. «Das Zelt ist der Ort, an dem alles zusammenkommt», erklärt Nino Perol, ehemaliger Schüler und heute Teil der Trainingsleitung. «Die Schüler erleben, wie ihre monatelange Arbeit ein Publikum begeistert.» Mit fast eintausend Sitzplätzen zieht das Zelt jährlich über 7.000 Zuschauer an. Die Nightshow ist besonders bei älteren Schüler:innen beliebt. Hier dürfen sie experimentieren und anspruchsvollere Themen umsetzen. «In der Nightshow geht es um mehr als Kunststücke», sagt Helena. «Wir erzählen Geschichten, die uns bewegen.»
Ein besonderes Highlight des Circus Calibastra ist das Live-Orchester, das jede Aufführung begleitet. «Bei uns kommt nichts vom Band», erklärt Henning Otte vom Team für Öffentlichkeitsarbeit. Das Orchester, bestehend aus ehemaligen Schüler:innen, Eltern und professionellen Musiker:innen, verleiht den Shows eine einzigartige Atmosphäre. «Die Musik wird individuell auf jede Nummer abgestimmt, von spannungsgeladenen Klängen für die Akrobatik bis zu humorvollen Melodien für die Clowns», sagt Nino Perol. Besonders stolz ist der Zirkus auf die Vielfalt der Instrumente, die von Saxophon und Trompete bis zur Posaune reicht. Auch die Proben des Orchesters sind aufwendig in der Organisation: Wochen vor den Aufführungen treffen sich die Musiker:innen, um die Stücke einzustudieren und jede Szene perfekt zu begleiten.
Augenhöhe, Geduld und Disziplin
Der Circus Calibastra vermittelt Werte, die weit über die Schulzeit hinausreichen. «Im Zirkus lernen wir Geduld», sagt ein Trainer. «Jonglieren funktioniert nur, wenn man immer wieder übt. Diese Disziplin hilft den Schüler:innen später auch in anderen Lebensbereichen.» Neben der Geduld steht das Miteinander im Mittelpunkt. «Wenn du mit anderen eine Menschenpyramide baust, lernst du, auf Augenhöhe zu kommunizieren», erklärt Palle. Dieses Miteinander zeigt sich auch im Schulalltag. Auf dem Pausenhof begegnen sich Zirkus-Schüler:innen auch unabhängig von ihrer Klassenstufe – eine Seltenheit in vielen Schulen. Die Gemeinschaft im Zirkus endet nicht mit dem Schulabschluss. Eltern und Ehemalige sind ein wichtiger Teil des Netzwerks. Sie unterstützen bei Organisation, Kostümen und Musik. Besonders beeindruckend sind Jubiläumsprogramme zu runden Geburtstagen. «Es ist wie ein großes Wiedersehen», erzählt ein ehemaliger Clown. «Man spürt, wie stark der Zirkus uns alle geprägt hat.»
Vom 19. bis 27. Juli 2025 wird der Circus Calibastra sein Zelt wieder in Stuttgart-Vaihingen aufschlagen. Mit der Kindermatinée, dem Hauptprogramm, der Nightshow sowie der Ehemaligenshow ist für jede Altersgruppe etwas dabei.
Informationen zu den Programmen und Tickets gibt es unter: www.calibastra.de
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