Junge Menschen in Industrieländern durchwandern meistens eine frühe und lange Institutionalisierung. Die Krippenzeit beginnt für manche von ihnen im Alter von ein paar Monaten. Dann folgen Kindergarten, die Volksschule und im Anschluss die weiterführenden Schulen und Ausbildungswege. So gesehen findet die Platzierung und die Einordnung in ein bereits vorgefestigtes, soziales Gefüge von klein auf statt. Um seine Rolle und Wirksamkeit in der Gesellschaft zu finden, muss man einerseits früh gewisse Bildungsstationen absolvieren und andererseits seine Begabungen und Stärken entwickeln. Menschen aus einem privilegierteren Umfeld haben automatisch Vorteile gegenüber Personen, die aus ärmeren Verhältnissen stammen. Schlussendlich wirft eine frühe Institutionalisierung die Frage auf, ob sie zu einer erfolgreichen Zusammenführung aller Menschen führt oder ob sie eine Form der Entfremdung fördert. In den Augen des österreichisch-US-amerikanischen Kulturkritikers, Autors, Philosophen und Theologen Ivan Illich war die Schule alles andere als ein Ort der Bildung. Er sah in ihr die primäre Ursache für die Ausbreitung sozialer Ungleichheiten und das wirksamste Instrument zur Vorbereitung der Kinder auf ein leistungs- und konsumorientiertes Leben, das unweigerlich zu einer Entfremdung führe. Verschultes Lernen stand für ihn konträr zu Emanzipation und Freiheit. So schrieb er 1971: «Entschulung ist die Grundvoraussetzung jeder Bewegung für die Befreiung des Menschen.» Diese von ihm in die Öffentlichkeit getragene und für viele provokante Ansicht löste Anfang der 1970er Jahre eine Diskussionswelle aus.
Unangepasster Denker
Ivan Illich gehört zu den radikalsten Kulturkritikern und war ein weltberühmter unangepasster Denker, der nicht nur das Bildungswesen hinterfragte, sondern generell alle wesentlichen Institutionen der modernen Gesellschaft. Er beleuchtete die Themenbereiche Bildung, Technologie, Umwelt und das Gesundheitswesen. Mit Werken wie Entschulung der Gesellschaft und Die sogenannte Energiekrise gilt er als Vordenker der Freilerner- und Postwachstumsbewegung. Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren und wuchs dreisprachig auf der dalmatinischen Insel Brač auf. Nach der Trennung seiner Eltern zog er mit seiner Mutter und den Zwillingsbrüdern 1932 nach Wien zurück. Als Folge der Nürnberger Rassengesetzte galt die Familie seit 1938 amtlich als jüdisch, obwohl sich seine Mutter jüdischer Herkunft in jungen Jahren evangelisch taufen ließ und sein Vater ein Katholik aus Dalmatien war. Daher mussten sie 1941 vor dem Naziregime nach Italien fliehen, wo Ivan Illich in Florenz sein Abitur absolvierte. Es folgten Studien der Chemie und Philosophie und anschließend der Theologie in Rom. 1950 wurde er zum katholischen Priester geweiht. In den 1950er Jahren zog er nach New York, wo er als Priester die Armut und das Leid der migrantischen puerto-ricanischen Bevölkerung kennenlernte. Illich warf mehrfach alles in seinem Leben um. Seine Passion, die Welt und die Gesellschaft zu ändern, wurde zu seiner Lebensmission und Berufung. Es folgten zwei Jahrzehnte in Puerto Rico und Mexiko, wo er als Armenpriester in den Slums arbeitete. 1960 gründete er ein globales Forschungs- und Dokumentationszentrum (CIDOC) im mexikanischen Cuernavaca, das er als die Denkerei bezeichnete. Sein Bildungskonzept, wie Lernen erfolgen sollte, und seine Ideen in Richtung Deschooling (Entschulung) bekamen einen Standort, der eine Einrichtung, widersprüchlicherweise sogar eine Schule war. Dieser Standort hätte ab einer bestimmten Größe eine Institutionalisierung erfahren und wäre so konträr zu seinen Vorstellungen eines gesellschaftlichen Ordnungssystems. Folgerichtig löste Illich diese inspirierende Lernwerkstatt von Bildung, Austausch und Begegnung nach rund zehn Jahren auf. Er kehrte der Kirche den Rücken zu und legte alle priesterlichen Würden ab. Fortan widmete er sich dem Thema Erziehung. Er schrieb zahlreiche Bücher und lehrte an Universitäten auf der ganzen Welt, obwohl er gleichzeitig die Abschaffung aller Institutionen inklusive der Universitäten, jedoch allen voran der Schule, forderte. Am 2. Dezember 2002 starb Ivan Illich an einem Krebsleiden in Bremen. Der Gesellschaftskritiker erfuhr in seiner Kindheit Flucht und Entwurzelung. Er lebte in mehreren Kulturen und beherrschte acht Sprachen. Dieses Phänomen sorgte bei ihm für das Gefühl sowohl sprachlich als auch räumlich nirgendwo zu Hause zu sein und könnte der Keim seines revolutionären Gedankenguts gewesen sein.
Lebenswelt Schule
Das Bildungswesen soll nach Illichs Vorstellungen ein Ort der gleichgestellten Begegnung zwischen Lernenden und Lehrenden sein und allen Menschen zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens Zugang zu bestehenden Lernmöglichkeiten (wie zum Beispiel Materialien und Museumsbesuche) gewährleisten. Alle Mitbürger:innen bekommen die Erlaubnis, ihr Wissen mit anderen zu teilen und ihre Kenntnisse jederzeit weiterzugeben, ähnlich wie auf einem Marktplatz, nur in diesem Fall handelt es sich um eine sogenannte Börse der Fertigkeiten. Er plädiert für die Abschaffung der Regelschule mit der Alternative eines Netzwerks an geselligen, kommunikativen Einrichtungen. Und auch wenn sich Illichs Erfolg auf die Veröffentlichung seiner Ansätze und Ideen beschränkte, die nie in die Praxis umgesetzt wurden, und das konventionelle Bildungswesen gegen seinen Sinn bestehen blieb, laden seine kritischen Schriften bis heute zum Reflektieren ein.
Die Institution Schule ist eine Lebenswelt und ein sozialer Ort, der jungen Menschen den Einstieg in die Gesellschaft ermöglicht. Um diesen facettenreicher und besser zu gestalten, sind regelmäßige Bildungsreformen und konstruktive Änderungen notwendig, die für unsere Zukunft nachhaltige Veränderungen anstreben und ein gemeinschaftliches Miteinander sowie das Finden der eigenen Talente fördern. Reformpädagogen:innen sind wichtig wegen ihrer Visionen und ihres Vordenkens. Sie bereiten den Weg für die Schaffung einer neuen Gesellschaft.
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