Ausgabe 09/24

«Vorlesen ist ein Monolog, Erzählen aber ein Dialog.»

Anne Brockmann

«Geschichten lassen bei den Zuhörenden innere Bilder entstehen. Und innere Bilder sind lebensnotwendig. Ohne sie verarmt die Seele.» Damit bringt Pasedag auf den Punkt, was Rudolf Steiner vielfach beschrieben und erklärt hat. Das Nahebringen von «Märchen, Legenden und Sagen» nannte er ein Hinweisen «auf Übersinnlich-Geistiges». Auch von Imaginationen, die «zum Erklingen gebracht werden», war bei ihm die Rede und dass diese die Lebenskräfte stärken, die Erkenntniskräfte erschließen und die Willenskräfte befeuern würden. Aufs Erzählen-Können kommt es in der Waldorfschule also an. Wie aber werden Klassenlehrer:innen zu guten Erzähler:innen?

Pasedag ist seit 1982 selbst Waldorflehrer und bildet seit mehr als 20 Jahren Klassenlehrer:innen von morgen aus. Er vermittelt insbesondere die Methodik und Didaktik des Erzählens. Für ihn steht fest: «Erzählen kann jede:r.» Im Grunde tun wir es bereits jeden Tag. Wenn wir beim Abendessen zu Hause die Straßensperrung, den Stau und das Stresslevel der Polizist:innen schildern. Wenn wir den Kolleg:innen beschreiben, wie ein einzelner Schauspieler beim Theaterbesuch am Abend zuvor die ganze Bühne gefüllt hat. Das  können laut Weißinger Motive sein, die uns daran erinnern, dass wir erzählen, wann immer wir etwas mit anderen Menschen teilen. Erzählen ist also eine Kunst des Alltags. Tatsächlich beginnen die Lektionen fürs Erzählen in München oft genau so: «Erzählen Sie uns doch mal, was sie gestern Abend gemacht haben!» Denn das Wichtigste sei es, die Hemmschwelle zu senken und Mut zu machen. «Dinge, die wir selbst erlebt haben, da stecken wir ganz drin, davon tragen wir die Bilder in uns. Deshalb fällt es uns leichter, davon zu erzählen. Aber dahin müssen wir auch mit fremdem Stoff kommen», sagt Weißinger. Er hat über Goethes Faust promoviert und vermittelt den Studierenden die Pädagogik der Oberstufe. Auch dort spielt das Erzählen eine wichtige Rolle, auch wenn der Erzählstoff ein anderer ist.

Margareta Leber empfiehlt ihren Studierenden eine imaginierte Landkarte, wenn es darum geht, einen neuen Erzählstoff zu durchdringen und sich zu eigen zu machen. «Es ist eine Möglichkeit, die wesentlichen Stationen der Geschichte gedanklich in eine Landkarte zu packen und diese dann der Chronologie nach abzuschreiten», sagt sie. Voraussetzung für das Erstellen dieser Landkarte ist zunächstmal das Verständnis für den Inhalt des jeweiligen Textes. «Das braucht heute mehr Zeit als früher: sich darüber klar zu werden, wovon ein Text wirklich handelt. Ich habe bei meinen Studierenden gemerkt, dass sie Schwierigkeiten haben, Fabeln zu verstehen.  Aber was soll's? Dann nehmen wir uns eben die Zeit», lächelt Leber. Neben ihrer Tätigkeit als Dozentin unterrichtet sie auch selbst eine Klasse in der fünften Jahrgangsstufe und erzählt dort regelmäßig. «In der fünften Klasse sind die Kinder in einem Alter, in dem man sich von ihrer Attitüde nicht abschrecken lassen darf. Sie wollen schon erwachsen wirken, geben sich cool und abgeklärt und das ist auch vollkommen in Ordnung. Nur brauchen sie gerade in dieser Zeit die Geschichten als Ausgleich. Etwas zum Hineinträumen», ist Leber überzeugt. Klar könne es mal vorkommen, dass sie mit einer Geschichte so gar nicht landet. Dann sucht sie nach einer anderen oder hinterfragt ihren eigenen Zugang zum Inhalt.

Leber, Pasedag und Weißinger sind sich einig, dass es grundsätzlich immer darauf ankommt, eine Erzählung zu finden, die der Entwicklungsstufe der Kinder angemessen ist. Mit der achten Klasse etwa müsste sich der Erzählteil, der den Schlusspunkt jeden Hauptunterrichts  bildet, stark verändern. Bei den Jugendlichen sei dann das Urteilsvermögen so weit ausgebildet, dass die Erzählungen zum Beispiel die Naturgesetze berücksichtigen müssten. Biografien seien dafür besonders geeignet. Denn die Schüler:innen suchten nach Identifikationsfiguren, nach Vorbildern für das Ringen um den eigenen Weg und den Umgang mit Krisen, erlebt Weißinger. Der Übergang von einer Art der Erzählung zur anderen verlaufe fließend. Neben dem Erzählteil gibt es die sogenannten sinnigen Geschichten oder die moralischen Geschichten. Anders als die Märchen, Mythen, Sagen und Legenden aus dem Erzählteil dienen sie nicht dem Vertiefen und Abrunden der Unterrichtsinhalte. Vielmehr greifen sie aktuelle und individuelle Themen der Klassengemeinschaft oder einzelner Schüler:innen auf. «Bilder ermöglichen ein Verstehen von der Mitte her», sagt Pasedag und erklärt damit, worin die Chance beim Lernen und Erziehen mit Geschichten liegt.

Ob eine Geschichte erzählt oder gelesen wird, macht für die drei einen bedeutenden Unterschied. «Wenn ich erzähle, habe ich die Geschichte in mir. Ich bin mit der Geschichte verbunden und verbinde mich über die Geschichte auch mit den Kindern. Gehe auf sie und ihre Reaktionen ein, passe meine Erzählung daran an. Erzählen heißt immer auch, etwas von sich selbst preiszugeben», fasst es Leber zusammen. Weißinger wird noch deutlicher und sagt: «Vorlesen kann ich auch, ohne wirklich dabei zu sein. Vorlesen ist deshalb ein Monolog, Erzählen aber ein Dialog.» Bei den Rahmenbedingungen fürs Erzählen gehen die Meinungen der Dozierenden auseinander. Pasedag findet es wichtig, gute Gewohnheiten anzulegen, Rituale rund ums Erzählen zu schaffen – die Vorhänge zuziehen etwa, eine Kerze entzünden oder Anfang und Ende der Erzählzeit mit Musik zu markieren. Das könne den Zuhörenden helfen, in die richtige Stimmung, ins Lauschen zu kommen. Leber findet, es geht auch ohne. Solange nur die Erzählenden ganz identisch sind mit dem, was sie an ihr Publikum herantragen.

In München endet die Ausbildung der zukünftigen Klassenlehrer:innen mit einem Erzählwochenende. Zwei Tage lang kommen die Studierenden in einer Waldorfschule in der näheren Umgebung zusammen und tauchen ganz ins Erzählen ein. «Raus aus dem Seminargebäude, aus dem Gewohnten, rein in etwas Neues, ins Erzählen – das machen wir auch, wenn wir uns auf Geschichten einlassen. Deshalb passt es so gut», sagt Pasedag. Am Ende trägt jede:r mehrfach Erzählungen im Kreis der Studiengemeinschaft vor und erlebt dabei auch die eigenen Fortschritte. «Wer das schafft, ist gut gerüstet für die Klasse. Denn für Erwachsene zu erzählen, fällt den meisten schwerer als das Erzählen für Kinder», weiß der Dozent.

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