Ausgabe 07-08/24

Wach sein und tätig werden

Anne Brockmann

«Zeit habe ich eigentlich keine, aber die Impulse sind einfach da», sagt Jannes Llull. Dabei schwingt ein Schulterzucken mit und die rhetorische Frage «was soll ich machen?». Der 18-Jährige besucht die zwölfte Klasse der Freien Waldorfschule in Wiesbaden und plant, dort in einem guten Jahr das Abitur abzulegen. Llull treiben Fragen um, wie Schule heute sein sollte, damit sie die Schüler:innen wirklich erreicht und ihnen vermittelt, was sie wirklich brauchen. Weil «nicht überall alles so läuft, wie es laufen sollte», engagiert sich Jannes in der Bundesschüler:innenvertretung der Freien Waldorfschulen. Zur ehemals alleinigen philosophischen Sektion, die seit mehr als 20 Jahren besteht, kam im Herbst vergangenen Jahres die sogenannte schulpolitische Sektion hinzu, die die bundesweit 90.500 Schüler:innen gegenüber dem Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) und der Öffentlichkeit repräsentiert, den Austausch mit Vertreter:innen staatlicher Strukturen pflegt und sich schulpolitischer Themen annimmt. Zur schulpolitischen Sektion gehört auch Jannes. Er findet: «Die Schulen sind doch für uns Schüler:innen da. Sie bereiten uns auf unser Leben vor. Da ist es doch nur folgerichtig, dass wir mitarbeiten an den Konzepten dafür, was in den Schulen passiert.» Die Partizipation der Schüler:innen aber kommt ihm bisher noch zu kurz. Deshalb unterstützte er die Gründung der schulpolitischen Sektion.

«Was meine eigene Schule angeht, kann ich mich in puncto Mitbestimmung nicht beschweren. Bei uns klappt das schon ganz gut. Schüler:innen werden dort immer mehr gehört, miteinbezogen und berücksichtigt. Aber das ist längst nicht überall so, erzählen mir Vertreter:innen anderer Schulen», sagt Jannes. Der Kreis derer, mit denen er in Austausch kommt, ist seit der Gründung der schulpolitischen Sektion deutlich größer geworden. Bis dahin war es aber ein hartes Stück Arbeit. In jedem Bundesland haben sich durch Engagement von Schüler:innen Waldorf-Landesschüler:innenvertretungen (W-LSV) gebildet. Jannes hat vor allem in seinem Bundesland Hessen den Grundstein für die W-LSV gelegt. Jede einzelne Schule in Hessen hat Jannes angeschrieben und gefragt, ob es Schüler:innen gibt, die Interesse haben, sich zu vernetzen. Von einigen hat er lange Zeit gar nichts gehört, hat sie noch einmal angeschrieben, ihnen hinterher telefoniert. Kontakte, die schneller geknüpft waren, sind unterdessen wieder eingeschlafen. Einen Durchbruch hat das erste Treffen in Präsenz gebracht. Nach den Sommerferien kamen alle Interessierten im September 2023 in der Freien Waldorfschule Wiesbaden erstmals zusammen. «Die Begegnung in echt ist ein ganz anderer Motor. Wir haben sofort ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt und uns gut verstanden. Seitdem sind alle viel motivierter unterwegs», freut sich Jannes.

Schon seit vier Jahren ist der angehende Abiturient Klassensprecher. Außerdem engagierte er sich im Stadtschüler:innenrat von Wiesbaden, war sogar Vorstandsmitglied dort. Entmutigt hat ihn, dass Beschlüsse, die das Gremium gegenüber Schulträger:innen durchgesetzt hat, per se nicht für Waldorfschulen galten, weil diese sich in freier Trägerschaft befinden. So hat er mit seinem Einsatz zwar Gutes für andere Schulen bewirkt, seine eigene Schule aber blieb außen vor. «Ein Beispiel ist die kostenlose Bereitstellung von Menstruationsprodukten in Spendern. Das wurde auf die Initiative des Stadtschülerrates hin in Wiesbaden flächendeckend umgesetzt, nicht aber bei uns. Unsere SV musste daraufhin eigene Spender organisieren, befüllen und aufstellen», bedauert Jannes. Das brachte den Impuls, auch in Hessen ein waldorfschulinternes Bündnis zu schaffen. «Diese Bündnisse der Waldorfschüler:innen gibt es mittlerweile in jedem Bundesland», berichtet Jannes. Um auf Bundesebene in einen guten Austausch zu kommen, hat sich die schulpolitische Sektion der Waldorf SV gebildet, die die W-LSVen vereint. Jannes ist sowohl Mitglied der W-LSV Hessen als auch der schulpolitischen Sektion der Waldorf SV. In die Arbeit für die schulpolitische Sektion investiert Jannes viel Zeit. Es gibt ein wöchentliches Online-Meeting von zwei Stunden, aus dem sich Aufgaben für mindestens weitere zwei Stunden ergeben. Für Reisen zu Veranstaltungen wird Jannes schon mal ein bis zwei Tage pro Woche von der Schule freigestellt. Gar nicht so selten komme er auf bis zu fünf Fehltage im Monat, erzählt er. Möglich sei das, weil ihm das Lernen verhältnismäßig leichtfalle. Und außerdem sieht Jannes in seiner schulpolitischen Arbeit ein noch größeres Lernpotenzial als in mancher Unterrichtsstunde. «Ehrlich gesagt: Ins Abi möchte ich nur so viel  Aufwand wie nötig reinstecken, um ein für mich gutes Ergebnis zu erzielen», sagt er offenherzig. Im Moment liegt er bei einem Notendurchschnitt von gut 13 Punkten. Oft nutzt er die Bahnfahrten für seine Schulaufgaben.

Mit der neuen W-LSV Hessen ist er inzwischen längst in die inhaltliche Arbeit eingestiegen. Den Schüler:innen liegt eine Liste mit knapp 20 Themen vor. Davon brennen ihnen drei besonders unter den Nägeln. «Die Sexualkunde, der Fremdsprachenunterricht und Rassismus an Waldorfschulen haben für uns im Augenblick Priorität», berichtet Jannes. «Rassismus ist ja leider überall im Land ein Problem, nicht nur bei uns, aber eben auch. Deshalb wollen wir da tätig werden. Wir erleben, dass Lehrkräfte unsicher im Umgang mit entsprechenden Schüler:innen sind. Dadurch werden No-Go-Sätze plötzlich salonfähig», berichtet Jannes. Den Fremdsprachenunterricht empfinden sie an vielen Schulen fachlich als unzureichend. Der müsste sich schlicht verbessern. Bei der Sexualkunde ginge es darum, dass sie sich wegbewege vom reinen Vermitteln der Anatomie und der Rechtslage hin zu Fragen der sexuellen Orientierung, der sexuellen Identität und des Sexuallebens. Die W-LSV Hessen wünscht sich Workshops für ihre Lehrkräfte oder ein Auslagern des Themas an externe Profis. «Wir haben einen Fragebogen erarbeitet, mit dem wir herausfinden möchten, was genau sich die Schüler:innen wünschen», erzählt Jannes.

Die Waldorf SV möchte sich aber nicht nur ihren Mitschüler:innen im ganzen Land widmen, sondern auch enger mit Gremien wie dem Bundesvorstand und dem Bundeselternrat zusammenarbeiten. «Denn nur wenn wir alle drei Perspektiven, die der Eltern, der Lehrkräfte und der Schüler:innen, der Schule berücksichtigen, können wir an den Waldorfschulen nachhaltige Veränderungen schaffen», ist Jannes überzeugt.

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