Ausgabe 07-08/23

Waldorflehrerin. Voll das Leben!

Nadine Mescher

Mit diesem Artikel öffne ich meine ganz eigene Klassenzimmertür und erzähle von mir, der Klassenlehrerin an einer kleinen, einzügigen Waldorfschule in Nordrhein-Westfalen.

Rückblick: Zur Waldorfpädagogik bin ich über meine Kinder gekommen. Der Entschluss, selbst Waldorflehrerin zu werden, fiel während der Elternzeit meines dritten Kindes. Mein Studium war durch meinen Bachelor in Sozialpsychologie und meinen Masterabschluss kürzer als üblich und ich durfte bald ein praktisches letztes Ausbildungsjahr machen. In meinem Berufsleben davor hatte ich freiberuflich für eine Tageszeitung und im Bereich PR gearbeitet, später dann als Sozialwissenschaftlerin in der Forschung und auf kommunaler und Landesebene im Öffentlichen Dienst. Heute, in meinem dritten Durchgang als Klassenlehrerin bin ich noch immer froh, diesen Beruf für mich entdeckt zu haben. Ich bin sicher, dass es keinen passenderen – da vielseitigeren – für mich gibt. Wahrscheinlich blogge, podcaste und schreibe ich deshalb so gern darüber. Letztendlich ist es wohl so, dass ich mich einfach für alle möglichen Themen begeistern kann und sehr gerne mit Kindern arbeite.

Mein Herz hat intuitiv sehr schnell «Ja!» gesagt zur Waldorfpädagogik als berufliche Veränderung. Was es allerdings bedeutet, Waldorflehrerin zu sein – vom Schaffen von Lernerlebnissen für Kinder bis hin zu Aufgaben in der Organisation des Schulbetriebes und Teil einer weltweiten Bewegung zu sein – das habe ich erst im Laufe der Zeit begriffen und durchlebt.

Dieses Heft erscheint im Sommer. Ein neues Schuljahr steht bevor, die Jahresplanung beginnt. Ich besuche zur Vorbereitung und zum kollegialen Austausch in der Regel eine Fortbildung für Klassenlehrer:innen und krame in meinem eigenen Archiv, das sich in den letzten Jahren gut gefüllt hat. Doch ich wärme nicht Unterricht aus meinen vorherigen Klassen auf. Ich werde zwar im neuen Schuljahr zum dritten Mal eine sechste Klasse haben. Doch diese unterscheidet sich selbstverständlich von den beiden vorhergehenden. Genauso, wie sich diese beiden unterschieden haben. Bei der Planung des neuen Schuljahres treffe ich ausschließlich Entscheidungen für meine jetzige Klasse. Ich wähle aus, strukturiere, setze Schwerpunkte, überlege Projekte und denke über außerschulische Lernorte nach. Diese individuelle Planung empfinde ich nicht als aufwändig oder anstrengend, sondern als eines der Highlights meines Berufes.

Ein Blick auf das neue Schuljahr: Gleich nach der ersten Epoche geht es für meine Klasse und mich auf Klassenfahrt, in die Nähe von Leipzig – eine kleine Weltreise vom Rande des Ruhrgebiets aus. Wie lässt sich das einbinden in die erste Epoche? Alles, was die Kinder täglich erleben und lernen, benötigt einen sinnvollen Bezug zu ihrer Lebenswelt. Meine Idee dazu ist der Arbeitstitel «Epoche über meine Klasse und mich». Die steht in keinem Lehrplan und schon gar nicht in Lehrbüchern. Diese Epoche basiert ausschließlich auf meiner bisherigen pädagogischen Arbeit, Erfahrungen und Lernzielen im Fach Deutsch der sechsten Klasse. Es geht um das Soziale in der Klasse und um das, was jedes Kind mitbringt und beiträgt. Ebenso wichtig ist, wie man in einem solchen Dauer-Gruppengeschehen die eigenen Grenzen wahren, Bedürfnisse äußern und den eigenen Gefühlen Raum geben kann.

Bei der Erarbeitung der Schreibanlässe geht es in Deutsch übrigens um die indirekte Rede sowie den Konjunktiv I und II, der Möglichkeitsform und der Wunschform. Da bietet eine anstehende Klassenfahrt viel Schreibstoff, der gern von den Kindern angenommen wird.

Waldorflehrerin zu sein heißt also, Unterricht in Beziehung zur Lerngruppe zu gestalten und zu organisieren. Eigene Lerninhalte passgenau zu erstellen, um eine Verbindung mit der Lebenswelt zu schaffen. Und die Lernziele der Klasse nicht außer Acht zu lassen, um den nächsten Lernschritt gehen zu können. All das weckt Lernfreude und motiviert die Kinder, sich den Themen anzunähern.

Die Lernenden von heute sind die Zukunftsgestaltenden von morgen. Sie sollten daher immer ihre eigenen Möglichkeiten sehen und Denkanstöße dafür bekommen, wie die große, weite Welt da draußen funktioniert und ein Stückchen besser gemacht werden kann. Die Gesellschaft, der Umgang mit Natur und Ressourcen, der Tier- und Artenschutz – Denkanstöße gibt es viele. Auch die 30 jungen Menschen, die täglich einen Teil ihres Vormittags mit mir verbringen, werden einst viel zu tun haben. Wie könnte ich da stumpf standardisierten Lernstoff abarbeiten? Die Kinder, die Welt, in der sie heute leben und die Welt, die sie mitgestalten werden, müssen gesehen werden.

Zurück an den Schreibtisch. Wenn also die Epochen des Schuljahres im Großen und Ganzen konzipiert und auf die Wochen des Schuljahres verteilt sind, steht die Feinplanung der Unterrichtsreihen und natürlich jedes einzelnen Schultages an. Eine Epoche lässt sich nie tagelang im Voraus planen. Schließlich passiert an jedem Schultag das Leben, nicht immer geht mein Plan auf. So muss ich manchmal nachjustieren. Ich nehme es an, wenn die von mir gesetzten Ziele an einem Tag nicht erreicht wurden. Ich habe aber auch immer eine kleine Reserve im Gepäck, wenn meine Planung übertroffen wurde.

Zudem muss so ein Unterricht binnendifferenziert werden. Jedes Kind muss seinen Möglichkeiten entsprechend einen Lerngewinn daraus ziehen können. Unsere Schulform ist ja von Grund auf eine Schule für alle Kinder und es gilt: alters- und entwicklungsgleich, innerhalb eines breiteren Leistungsspektrums.

Zeit für den großen Sprung vom Schreibtisch ins bunt gemischte Klassenzimmer, wo die Schule mit ihrer ganzen Vielfalt lebt. Ein guter, binnendifferenzierter Unterricht ist schülerzentriert und funktioniert am besten in verschiedenen Sozialformen, in einer anregenden, entspannten Lernatmosphäre. Bei der Arbeit sollen die Kinder nicht nur für sich sein, sondern auch einander helfen, sich gegenseitig beraten, in eigenen Worten erklären, Fragen stellen und selbst Antworten finden. Dabei Stärken und Schwächen wahrnehmen und anerkennen, sich Feed-back geben. Wenn ein solches System zum Laufen gebracht ist, nimmt es schnell Fahrt auf. Sind die Kinder größtenteils bei der Arbeit, kann ich mich auch Einzelnen zuwenden, ohne dass es bei Anderen zu Wartezeiten oder Stillstand kommt. Doch die Lehrerin-Antennen sind stets weit ausgefahren. So zu arbeiten, mit über 30 Kindern gleichzeitig, fordert meine volle Aufmerksamkeit. Es ist aber auch besonders schön, so mitten im Lerngeschehen zu sein!

Gemeinsames Lernen ist eine sehr soziale Sache. Lernen in Beziehung, Leben und Aufwachsen in einer stabilen Gemeinschaft, das heißt auch, Freud und Leid zu teilen, Anteil aneinander zu nehmen, sich selbst zu offenbaren und besonders: Verantwortung zu tragen.

Wenn eine Lehrerin bis zu acht Jahre lang täglich an der Seite ihrer Klasse ist, bedeutet dies für jedes Kind am Ende der achten Klasse: Es hatte mich vielleicht mehr als sein halbes Leben lang an seiner Seite. Was für eine Verantwortung und Ehre! Es besteht aber auch meinerseits eine vertraute, gewachsene Bindung zu den Kindern und eine Erziehungspartnerschaft mit den Eltern. Man kennt sich. Ich sehe morgens beim Hereinkommen jedem Kind an der Nasenspitze an, wie es ihm geht. Und wenn es auch mir selbst einmal nicht gut geht, lässt sich dies nicht einfach als Fassade vor den Kindern weg­lächeln. Die Kinder erkundigen sich durchaus, wie es mir geht. Und als mein Hund starb, war meine damalige Klasse tief betroffen.

Wenn Eltern sich trennen, erfahre ich es oft als eine der Ersten. Weil auch ich ihr Kind im Blick habe und ihm etwas Halt geben kann. In acht Jahren passiert so viel innerhalb der Gemeinschaft: Familien ziehen weg, man nimmt Abschied. Neue Kinder finden ihren Weg in die Klasse, die Gemeinschaft verändert sich. Es werden Geschwister geboren. Trennungen geschehen, Hochzeiten werden gefeiert, neue Patchworkfamilien entstehen. Die Familien meiner Klasse und ich, wir gehen ein ganzes Stück Weg gemeinsam. Die Kinder meiner Klasse sind nicht einfach nur mein Job. Sie gehören auch zu meinem Leben. Wenn Ferien sind, lässt sich das nicht abschalten. Ich schließe nun mal keinen Aktendeckel und habe Urlaub. Oft denke ich an meine Klasse und ich freue mich auf ein Wiedersehen. Bei allem Abstand.

Natürlich läuft nicht immer alles harmonisch und einvernehmlich. Kommt es zu Meinungsverschiedenheiten mit Eltern, fühlt sich das nicht an wie ein Serviceproblem. Es gibt Bedarf nach Zwischenmenschlichkeit. Wenn ich mit Eltern über Schwierigkeiten oder Konflikte ihrer Kinder im Schulalltag sprechen muss, zeigt sich besonders, wie stabil und vertrauensvoll die jahrelange Zusammenarbeit ist.

Auch wenn so eine Waldorfklasse oft nach außen hin aussieht wie eine kleine Welt für sich, braucht man doch ein Netzwerk, das mehr ist als nur gute Nachbarschaft: meine Kolleginnen und Kollegen. Und das ist an unserer kleinen, einzügigen Waldorfschule sehr familiär. Unser Kollegium war mir von Anfang an ein sicheres, Halt gebendes Netzwerk. Und so komme ich zu dem größeren Ganzen, in dem nicht nur das Leben meiner Klasse ein schulisches Zuhause findet, sondern auch ich. Als ich als Berufsanfängerin neu an die Schule kam, fühlte ich mich sogleich getragen. Mein erstes Dienstjahr passt zu dem afrikanischen Spruch «Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.» Ich fand überall ein offenes Ohr und fühlte mich schnell sehr wohl. Noch heute empfinde ich dies als große Qualität für mein Lehrerinwerden und -sein. Eine funktionierende, wohlwollende, kollegiale Zusammenarbeit an der Schule ist also eine weitere wichtige Stütze in diesem Beruf. Der lange Donnerstag, unser Konferenztag, ist mit viel Arbeit verbunden – machmal ein Kraftakt. Er pflegt aber immer auch das Miteinander.

Inzwischen gehöre ich zu den etwas «älteren Häsinnen» im Kollegium und bin gern aktiv bei der Einarbeitung und Ausbildung neuer Kolleg:innen. Abschied und Veränderung, das gehört auch in die gewachsene Gemeinschaft der Lehrenden. In die Gemeinschaft, für die ich die Zeit zum Hineinwachsen selbst auch bekam. Ich wurde nicht in Aufgaben der Selbstverwaltung gedrängt, ich durfte in Ruhe Lehrerin werden und als Mutter für meine drei Kinder da sein, bevor meine Aufgaben in der Schulorganisation wuchsen. So bin ich mit vielen meiner Kolleg:innen sehr verbunden und habe an meiner Schule Wurzeln geschlagen.

Meine Schule ist wiederum Teil einer ganzen Bewegung, im Bund der Freien Waldorfschulen und auch weltweit. Das war deutlich spürbar im Jahr 2019, durch Waldorf 100. Unsere schulische Selbstverwaltung ist auch Zukunftsdenken. In einem nicht nur deutschland-, sondern weltweiten Netzwerk ist jeder Impuls heute für morgen wichtig. Und so bin ich als Waldorflehrerin nicht einfach ein Wassertropfen im weiten Meer. Ich bin Impulsgeberin meiner Klasse, Mitgestalterin unserer Schule, Wegbereiterin für neue Lehrende und auch ein kleiner Teil einer weltweiten Bewegung, die Kinder dieser Erde erreicht – in so vielen Ländern, Sprachen und Kulturen. Schon ein bisschen schwindelerregend. Waldorflehrerin sein, wie ist das also? Es ist «einfach voll das Leben».

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