Waldorfehrer:innen sind Reisende mit schwerem Gepäck, angesichts von Weltdramatik, Modernisierungserwartungsdruck und Vorwürfen gegen anthroposophische Grundlagen der Waldorfpädagogik. Im Schulalltag werden sie durch die Selbstverwaltung und viele pädagogische Verpflichtungen belastet. Und doch haben sie die zentrale Zukunftsaufgabe, für Schüler:innen ein offenes Tor für die Welt in unsicherer Gegenwart und Zukunft zu sein. Wie können sie diese Aufgabe meistern?
Das Grundsätzliche dieser Fragestellung liefert die Parabel Von den drei Verwandlungen von Friedrich Nietzsche, in der Nietzsche drei Stufen der menschlichen Entwicklung hin zu einem vollständigen und freien Individuum definiert:
Die erste Stufe ist die des Kamels, das alle Bürden der Gesellschaft auf sich nimmt und gehorsam und fleißig ist. Die zweite Stufe ist die des Löwen, der die Autorität der Gesellschaft in Frage stellt und seine individuelle Freiheit und Autonomie sucht. Der Löwe kämpft gegen die moralischen und kulturellen Regeln der Gesellschaft. Die dritte Stufe ist die des Kindes, das die Welt neu betrachtet und sie als Quelle der Freude und Schönheit erlebt. Das Kind akzeptiert die Paradoxien des Lebens und lebt in der Gegenwart, ohne sich von der Vergangenheit oder Zukunft belasten zu lassen.
Menschliche Entwicklung definiert Nietzsche hier als einen Prozess der Befreiung von den Einschränkungen der Gesellschaft und der Entdeckung der eigenen Freiheit und Kreativität. Nur durch die Überwindung von kulturellen und moralischen Normen könne der Mensch richtig leben und frei sein.
Ich möchte Nietzsches Parabel als Lehrstück verstehen – über die Beziehung der Waldorflehrer:innen, die sich mit dem Studium von Anthroposophie und den Grundlagen der Waldorfpädagogik auseinandersetzen, zu Steiners Werk. Und ich möchte sie an der Frage messen, ob und wie das Studium der Anthroposophie Kräfte mobilisieren kann, um überlebensfähig zu sein – als ernstzunehmendes pädagogisches Angebot für noch nicht bekannte Verhältnisse.
Die waldorfpädagogische Gegenwart scheint darauf ausgerichtet zu sein, sich in der Auseinandersetzung mit der Kritik zu behaupten. Das ist eine nicht zukunftsfähige Verteidigungsstrategie. Hier gilt, was Eckart von Hirschhausen jüngst formulierte: «Den Status quo zu verteidigen, ist der sicherste Weg, ihn zu verlieren.»
Die ontologische Verunsicherung in allen Lebensbereichen verlangt zwar nach einem radikal neuen Denken, dieses verbleibt aber in der aktuellen Debatte im alten Muster. Doch Zukunft-Denken in alten Strukturen findet nichts Neues. In Bezug auf Mobilität finden wir zum Beispiel nur optimierte Verbrenner, bessere Motoren, Elektromotoren; das ist rückwärts gedacht und gehandelt. So wie es Henry Fords Bonmot aussagt: «Wenn ich die Leute gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde». Man muss insgesamt neu denken und handeln.
Der Sozialphilosoph Harald Welzer beschreibt, wie die in der Vergangenheit vorgestellte Zukunft heute wirkt: «Wer wissen möchte, was die Zukunft war, aus der dann unsere Gegenwart wurde, muss hobby lesen – das Magazin für Technik». Aus den Techno-Utopien der 60er Jahre wurde heute wirksame Gegenwart: unbegrenzte Ressourcenausnutzung und Denkmuster, die sich an ewigem Wachstum orientieren.
Mit Blick auf die Vergangenheit heißt die Aufgabe des Zukunftsdenkens deshalb: die mentalen Strukturen des Vergangenheitsdenkens offenlegen und überwinden. Andernfalls hangeln wir uns mit alten Denkmustern an einer Perpetuierung der Vergangenheit als Zukunft entlang – mit Prinzipien der Steigerung, Optimierung und Aggression.
Der aktuellen, krisenhaften Diffusion stellt der Soziologe Hartmut Rosa ein Modell der «mediumpassiven Weltverhältnisse» entgegen. Er beschreibt, wie eine zukunftslose Gesellschaft geprägt wird durch Aggressivität, die in der Binärität Aktiv-Passiv oder Täter-Opfer-Konstellation befangen ist. Ein offener Diskurs wird durch die Aggressivität in zwischenmenschlichen und staatlich-globalen Beziehungen unmöglich. Den Ausweg sieht Rosa in der «Mediumpassivität»: Statt in Aktion-Reaktions-Muster zu verfallen, müsse man sich berühren lassen und einlassen – wie beim Tanzen. Denn da «führst du mal oder du wirst geführt, das ist eine feine Wechselwirkung. Und am besten ist der Tanz da, wo du nicht mehr sagen kannst, ob du führst oder geführt wirst. (…) In Jazzgruppen hast du das auch, da führt immer jemand anderes.»
Die Voraussetzung für mediumpassive Weltverhältnisse ist ein Sich-einlassen-Können: auf die unbelebte, beseelte, begeistete Welt, im Sinne einer universellen Brüderlichkeit. Ich übernehme damit Verantwortung für unvorhergesehene, bisher nicht bedachte Wirkungen. Diese betreffen alle, die sich in entsprechenden Resonanzverhältnissen befinden. Das unter Ausnutzung von Ressourcen auf Gewinn gerichtete Herrschaftsdenken wird obsolet. Die Idee eines Impulses «absolutester Brüderlichkeit», wie ihn Rudolf Steiner 1918 als Vision beschreibt, rückt in die Zeitrealität ein.
Politik bedeutet nicht die Perpetuierung bestehender Strukturen, sondern «den Zusammenhang zwischen menschlichen und anderen Lebensformen und deren enge Verknüpfung mit den Erdsystemprozessen» zu verstehen, so der Historiker Dipesh Chakrabarty. Oder mit den Worten des Literaturwissenschaftlers Bernhard Malkmus: Wenn wir es nicht schaffen, «unsere Kultur auf ein Miteinander mit anderen Geschöpfen auszurichten, wird sie scheitern».
Zukunftsorientierung im aktuellen Zustand verlangt radikale Um- und Abwendungen, im Sozialen, im Wirtschaftlichen, hin zu einer von Grund auf universellen Lebensorientierung.
Nietzsche, Friedrich (2010): Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Stuttgart. Reclam 7111.
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