Woher kommen waldorfpädagogische Überzeugungen, die einer kritischen Betrachtung nicht standhalten? Betrachten wir die Verteilung der Unterrichtsinhalte bis zur Klassenstufe acht zum Zeitpunkt der Waldorfschulgründung. Ist der Lehrplan absichtsvoll angepasst an die Entwicklungsstufen der Menschheit und damit ein Plagiat des an dem biogenetischen Grundgesetzt angepassten Lehrplankonstrukts, wie es etwa von Tuiskon Ziller Ausgang des 19. Jahrhunderts propagiert wurde, oder folgt er genuin anthroposophischen Erkenntnissen über die Entwicklung des Kindes?
Dass man in der Waldorfwelt ersteres glaubt, äußert sich unter anderem in der Behauptung, dass Schüler:innen einer fünften Klasse «so richtige Griech:innen» seien. An diesem Thema kann man erleben, wie sich Parallelen zwischen dem Lehrplan der ersten Waldorfschule und staatlichen Lehrplänen zu unhinterfragten Selbstverständlichkeiten verdichten und das Besondere des Waldorfschullehrplans aus dem Bewusstsein gerät.
Rudolf Steiner hat sich zur Waldorfschulgründung selbstverständlich mit den methodisch-didaktischen Strömungen seiner Zeit auseinandergesetzt. Man müsse, so Steiner, weitere Gesichtspunkte als die auf Naturwissenschaft hin orientierte haben. Denn es sei notwendig, «... eine neue Menschenkunde aufzubauen als Grundlage für eine wirkliche Erziehungskunst der Zukunft». Diese beschreibt Steiner mit Blick auf die Entwicklung in Jahrsiebten, ihre Metamorphosen im siebten und 14. sowie Einschnitte im dritten und neunten Lebensjahr.
Er charakterisiert die Metamorphose der Nachahmungskräfte um das siebte Lebenjsahr in das Bedürfnis des Kindes, nun auf Autorität hin aufzunehmen, «was es wissen, fühlen und wollen soll» und erläutert eine an den genannten Lebensumschwüngen orientierte Didaktik und Methodik. Steiner betont, dass man zum Verstehen von Lernstoff erst später in der Biographie kommen solle: «Dieses Aufmerksam-machen des Kindes auf etwas, was es noch nicht versteht, was erst ausreifen muss, das ist außerordentlich wichtig. Und falsch ist nur der Grundsatz, der heute so stark in den Vordergrund gerückt wird: Man solle dem Kinde nur das beibringen, was es schon versteht – ein Grundsatz, der aller Erziehung unlebendig macht. Denn lebendig wird eine Erziehung erst, wenn man das Aufgenommene eine Zeitlang im Untergrunde getragen hat und es dann nach einiger Zeit wieder heraufholt. Das ist für die Erziehung vom 7. bis 15. Jahre sehr wichtig; dann kann man sehr vieles in die Kinderseele hereinträufeln, was erst später verstanden werden kann».
Vom Vergessen und Neubeginnen
Die Last der Vortragsfülle des pädagogischen Werks Steiners könnte einer unbeschwerten Zukunftspragmatik im Weg stehen: Wie kann sie zu leichtem Gepäck werden?
Um sich der Tragweite der Entlastung bewusst zu werden, hilft ein Blick auf den letzten Teil der Verwandlungen nach Nietzsche aus dem ersten Teil dieser Serie. Die Parabel weist auf eine Möglichkeit hin: Unschuld, Vergessen, Neubeginnen – das wäre ein möglicher Weg für Zukunftsdenken und -handeln. Steiner war das schöpferische Potenzial der Kraft des Vergessens bewusst und er beriet die Lehrer:innen so, «... daß sie gewissermaßen jeden Morgen mit jungfräulicher Seele ihre Schule betreten, um vor etwas völlig Neuem zu stehen ... Das Vergessenkönnen, das nur die andere Seite des Verarbeitetwerdens ist, das ist es, was Geisteswissenschaft den Menschen anerzieht, was das Ergebnis der Selbsterziehung durch die Geisteswissenschaft ist».
Vergessen im pädagogischen Kontext wäre Bedingung für ein Sicheinlassen auf das, was Welt ist: Hier kommt die mediumpassive Fähigkeit der Weltanverwandlung ins Spiel, die feine Wechselwirkung eines Paartanzes. Erst wenn diese Unbefangenheit gegeben ist, kann Zukunft greifbar werden.
Laut Steiner liegt im «Fortdenken und Fortfühlen des Aufgenommenen … ein Wesentliches». Auf diese Weise könnte Steiner für die Zukunft Bedeutung haben, als Keim, der sich weiterentwickelt – Zukunft eben. Dafür ist ein Befreiungsakt vom habituell gewordenen Gepäck notwendig.
«Werden Sie doch Tänzer»
Rudolf Steiner: «Werden Sie doch Tänzer, in dem Sinne, wie es bei Zarathustra gemeint ist! Leben Sie mit innerster Freude an der Wahrheit! Es gibt ja nichts Entzückenderes als das Erleben der Wahrheit.»
Waldorfpädagogik ist kein Programm, sondern auf die Verantwortung jeder Persönlichkeit gebaut, die mit ihr zu tun hat. Unterricht lebt von der Gunst des Augenblicks, nicht durch feste Vornahmen und unverrückbare Absichten. Gut vorbereitet kann man sich einlassen auf Situation und Schülerschaft – der Unterricht wird zum Tanz, wird durchmusikalisiert, man wird geführt. Diese auf ein Sich-Einlassenkönnen beruhende Anverwandlung von Welt ist Zukunft im Sein des Augenblicks, nicht planbar, aber in ihren Kräften vorbereitet. Der Moment des Gelingens wäre dann der der Wahrheit: Aus der Vergangenheit wird Vergessen und Zukunft. Dafür braucht es Menschen mit leichten Füßen.
Zukunft von Pädagogik entscheidet sich im Moment des Bildungsprozesses, dieser ist ohne Vergangenheit und Gegenwart nicht denkbar: Man muss ihn nur gut vorbereiten. Mit den Worten Nietzsches: «Wie vieles ist noch möglich! So lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch, höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht!»
Bei Interesse an der ungekürzten Fassung der Serie von Walter Riethmüller schreiben Sie bitte eine E-Mail an: redaktion@erziehungskunst.de
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