Ausgabe 09/23

Waldorfpädagogik Die Zukunft von gestern – (II): Schönheit der Revolution

Walter Riethmüller

Zwischenmenschliche Schwingungsverhältnisse zu ermöglichen ist das Thema der Pädagogik, wenn sie es mit geglückten Beziehungen zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen als Lernmotivation ernst meint. Der Erziehungswissenschaftler Joachim Bröcher beschreibt die derzeitige Situation von Wissenschaftler:innen als ständige Suche im selben Raum, «statt einfach mal nach draußen zu gehen und die Augen zu öffnen.» Denn erst durch freies Denken «entstehen plötzlich ganz neue Perspektiven.»

Hier wird die Ungewissheit der Gegenwart zur Bedingung für ein Denken in neuen Perspektiven. Von Schönheit in statu nascendi könnte man sprechen, wenn sich Idee, Funktion, Form und Material in einem harmonischen Fließzustand befänden und nicht erstarrten. Schönheit in diesem ungewissen Sinne würde neugierig machen, wäre ansteckend, öffnend. Doch sind Waldorfschulen und ihre Pädagogik in diesem Sinne schön, und leben sie die Gegenwart in dieser Ungewissheit entwicklungs- und zukunftsoffen? Oder sind sie verhaftet in alten Denkstrukturen und Handlungsmustern, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Vortragswerk Rudolf Steiners verfestigt haben? Sind sie dadurch nicht mehr frei, um in neuen Perspektiven zu denken? Vor 100 Jahren ist die Waldorfschule schließlich mit dem Anspruch angetreten, neue Perspektiven zu eröffnen.

Am Vorabend des ersten Lehrer:innenkurses, im August 1919, erklärte Steiner, wie Waldorfschule sein sollte: reformierend, revolutionierend, eine Kulturtat und damit praktischer Beweis für die Durchschlagskraft anthroposophischer Weltorientierung. Er forderte die Anpassung an das, «was weit abstehen wird von unseren Idealen», auch über den Mikrokosmos Schule hinaus. Lehrer:innen sollten «Kulturmenschen im höchsten Grade» sein. Sie müssten «lebendiges Interesse» für die Welt haben und Enthusiasmus für Schule und Arbeitsaufgaben entwickeln. «Dazu sind nötig Elastizität des Geistigen und Hingabe an unsere Aufgabe. Nur aus dem können wir schöpfen, was heute gewonnen werden kann, wenn Interesse zugewendet wird: erstens der großen Not der Zeit, zweitens den großen Aufgaben der Zeit.»

Steiner ging also im Zustand der Ungewissheit der Gegenwart ein Risiko ein: Er setzte auf die Kulturmenschen und lehnte Schule als Exekutionsorgan eines pädagogischen Programms ab. Das alles ist sattsam bekannt. Umso erstaunlicher, dass sein Aufruf zu freier pädagogischer Tat bei wachsender Schulbewegung und zeitlicher Entfernung von ihrem Ursprung die Gemüter der in ihr Tätigen wenig zu berühren scheint.

Für die Schüler:innen steht in unserer Welt heute buchstäblich alles auf dem Spiel. Wie die übrigen Schultypen ist die Waldorfschule als Institution von gestern – bewusst in der Hoffnung gegründet, auch in traditioneller Form durch eine neuartige Didaktik Revolutionäres anzuzetteln. Aber ist sie aktuell wirklich noch schön?

Allein der Blick auf den sozialen Status der Elternhäuser offenbart wenig revolutionäres, dafür aber stabilisierendes Potenzial: Verlässlichkeit bei Lehrplan und Klassenlehrer:innensystem; Praktika, Klassenreisen und Klassenspiele – und das seit hundert Jahren. Bei aller Wertschätzung dieses Vergangenheitsarsenals fordern Ehemalige dezidiert Reformen. Man solle den esoterischen Beigeschmack beiseitelegen und das «gesamte System an die heutige Zeit» anpassen.

Dazu kommt in der Außenwahrnehmung der museal anmutende Rekurs auf Rudolf Steiner. Das sorgt für Irritationen über den Umgang mit seiner Persönlichkeit und seinem Werk. Geistesgegenwart tut Not, scheint aber verloren gegangen zu sein. Dieser Eindruck entsteht angesichts von Dogmatismus und Scheinheiligkeit, aus der Zeit gefallene Ansichten und der Affinität gegenüber Verschwörungstheorien.

Es geht nicht um eine Waldorfschule mit esoterischem Beigeschmack, sondern um einen waldorfspezifischen Geschmack von Spiritualität und Esoterik in der Unterrichtspraxis. Steiner befürwortete eine Esoterik der Ermutigung und des Enthusiasmus, der sich am Erleben der Wahrheit entzündet. In seinem pädagogischen Werk findet man keine esoterischen Weltentwürfe, sondern die einem breiten Publikum zugängliche, multiperspektivische, spirituelle Anthropologie. Er erläutert das waldorfpädagogische Verständnis von kindlicher Entwicklung und einer förderlichen Pädagogik, die den überwiegend neurozentrierten Blick um ein geistiges Verständnis des Menschen erweitert.

Waldorfpädagogik geht nicht ohne den Bezug zu Steiner, dieser ist essenziell und unhintergehbar. Andernfalls wird man als eine unter vielen Reformschulpädagogiken subsummiert. Doch ihr Umgang mit anthroposophischen Grundlagen muss hinterfragt und in individueller Auseinandersetzung mit neuen Perspektiven versehen werden. Möglicherweise kann man dann den energetischen Kern der mit Steiners Persönlichkeit untrennbar verbundenen Pädagogik offenlegen.

Wie bei allen Künsten – und Pädagogik ist dezidiert eine besondere Kunst – kann man zu einem neuen Verständnis gelangen, indem man zurückgeht auf ihre Quellen: Spiritualität und revolutionärer Geist waren und sind die treibenden Kräfte der Waldorfpädagogik und -schule.

Mit einem Neu-Lesen liegt möglicherweise die Zukunft in der Vergangenheit. Die Option «Waldorfpädagogik ohne Steiner», respektive Anthroposophie, stände nicht mehr zur Disposition. Allerdings sind im Hinblick auf Zukunftstauglichkeit damit vielfältige Aufgaben verbunden. Äußerungen Steiners zur Pädagogik sind auf dem Hintergrund der aktuellen Wissenschaft zu bewerten. Methodische Hinweise sind in der Praxis dauerhaft zu erproben. Das kritiklose Umsetzen der Steinerschen Empfehlungen für die Unterrichspraxis ist ebenso ein Unding wie das Ignorieren derselben. Lehrplaninhalte müssen der Zeit angepasst, infolge aktueller wissenschaftlicher Befunde auch verworfen werden. Das aktuelle globale, universelle, dekolonialisierte Geschichtsverständnis gibt Veranlassung, die Geschichtsauffassung Steiners einer grundsätzlichen Befragung und Revision zu unterziehen.

Notabene: Eine ungekürzte Fassung dieser Serie ist unter dem Titel Waldorfpädagogik – Die Zukunft von gestern zu finden unter: ars-studien.de (mit der Möglichkeit zum Download)

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